Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2011-2012)/Teil I/Vorlesung 5

Die Vorlesungen der nächsten Wochen beschäftigen sich mit linearer Algebra. Dabei wird stets ein Körper zugrunde gelegt, wobei man dabei grundsätzlich an die reellen Zahlen denken kann. Da es aber zunächst bei Fragen der linearen Algebra nur auf die algebraischen Eigenschaften von ankommt und wir deren analytische Eigenschaften noch nicht besprochen haben, kann man genauso gut an die rationalen Zahlen denken. Ab der Eigenwerttheorie (im nächsten Semester) werden dann auch analytische Eigenschaften bedeutsam.



Lineare Gleichungssysteme

Wir beginnen mit drei einführenden Beispielen, einem alltäglichen, einem geometrischen und einem physikalischen, die alle zu einem linearen Gleichungssystem führen.


An einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt gibt es drei verschiedene Glühweintöpfe. Alle drei beinhalten die Zutaten Zimt, Gewürznelken, Rotwein und Zucker, allerdings mit unterschiedlichen Anteilen. Die Zusammensetzung der einzelnen Glühweine ist

Jeder Glühwein wird also repräsentiert durch ein Vierertupel, deren einzelne Einträge für die Anteile an den Zutaten stehen. Die Menge aller (möglichen) Glühweine bilden einen Vektorraum (diesen Begriff werden wir in der nächsten Vorlesung einführen), und die drei konkreten Glühweine sind drei Vektoren in diesem Raum.

Nehmen wir an, dass keiner dieser drei Glühweine genau den gewünschten Geschmack trifft und dass der Wunschglühwein die Zusammensetzung

hat. Gibt es eine Möglichkeit, den Wunschglühwein durch Zusammenschütten der vorgegebenen Glühweine zu erhalten? Gibt es also Zahlen[1] derart, dass

gilt? Hinter dieser einen vektoriellen Gleichung liegen vier einzelne Gleichungen in den „Variablen“ , wobei die Gleichungen sich aus den Zeilen ergeben. Wann gibt es eine solche Lösung, wann keine, wann mehrere? Das sind typische Fragen der linearen Algebra.


Zwei Ebenen im Raum, die sich in einer Geraden schneiden.

Zwei Ebenen im Raum, die sich in einer Geraden schneiden.

Im seien zwei Ebenen

und

gegeben.[2] Wie kann man die Schnittgerade beschreiben? Ein Punkt liegt genau dann auf der Schnittgerade, wenn er die beiden Ebenengleichungen erfüllt; es muss also sowohl

gelten. Wir multiplizieren die erste Gleichung mit und ziehen davon das -fache der zweiten Gleichung ab und erhalten

Wenn man setzt, so muss und sein. D.h. der Punkt gehört zu . Ebenso findet man, indem man setzt, den Punkt . Damit ist die Schnittgerade die Verbindungsgerade dieser Punkte, also



Ein elektrisches Netzwerk (ein Gleichstrom-Netzwerk) besteht aus mehreren miteinander verbundenen Drähten, die in diesem Zusammenhang die Kanten des Netzwerks genannt werden. In jeder Kante liegt ein bestimmter (vom Material und der Kantenlänge abhängigen) Widerstand vor. Die Verbindungspunkte , in denen die Kanten zusammenlaufen, nennt man die Knoten des Netzwerks. Wenn an das Netzwerk (bzw. gewisse Kanten davon) eine Spannung angelegt wird, so fließt in jeder Kante ein bestimmter Strom . Es ist sinnvoll, für jede Kante eine Richtung zu fixieren, um die Fließrichtung des Stromes in dieser Kante unterscheiden zu können (wenn der Strom in die entgegengesetze Richtung fließt, so bekommt er ein negatives Vorzeichen). Man spricht von gerichteten Kanten. In einem Knotenpunkt des Netzwerks fließen die Ströme der verschiedenen anliegenden Kanten zusammen, ihre Summe muss ergeben. Entlang einer Kante kommt es zu einem Spannungsabfall , der durch das Ohmsche Gesetz

beschrieben wird.

Unter einer Masche (oder einem Zykel) des Netzwerks versteht man eine geschlossene gerichtete Verbindung von Kanten. Für eine solche Masche ist die Gesamtspannung , es sei denn, es wird „von außen“ eine Spannung angelegt.

Wir listen diese Kirchhoffschen Regeln nochmal auf.

  1. In jedem Knoten ist die Summe der (ein- und abfließenden) Ströme gleich .
  2. In jeder Masche ist die Summe der Spannungen gleich .
  3. Wenn in einer Masche eine Spannung angelegt wird, so ist die Summe der Spannungen gleich .

Aus „physikalischen Gründen“ ist zu erwarten, dass bei einer angelegten Spannung in jeder Kante ein wohlbestimmter Strom fließt. In der Tat lässt sich dieser aus den genannten Gesetzmäßigkeiten berechnen, indem man diese in ein lineares Gleichungssystem übersetzt und dieses löst.

In dem durch das Bild angegebenen Beispiel seien die Kanten (mit den Widerständen ) von links nach rechts gerichtet, und die Verbindungskante von nach (an die die Spannung angelegt sei), sei von unten nach oben gerichtet. Die vier Knotenpunkte und die drei Maschen und führen auf das lineare Gleichungssystem (einfließende Ströme gehen negativ und abfließende Ströme positiv ein; für die Maschen wählt man eine „Kreisrichtung“, im Beispiel nehmen wir den Uhrzeigersinn, und führen die gleichorientierten Spannungen positiv an)

Dabei sind die und vorgegebene Zahlen und die sind gesucht.



Es sei ein Körper und für und . Dann nennt man

ein (homogenes) lineares Gleichungssystem in den Variablen . Ein Tupel heißt Lösung des linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Wenn beliebig[3] ist, so heißt

ein inhomogenes lineares Gleichungssystem und ein Tupel heißt Lösung des inhomogenen linearen Gleichungssystems, wenn für alle ist.

Die Menge aller Lösungen eines linearen Gleichungssystems heißt die Lösungsmenge. Im homogenen Fall spricht man auch vom Lösungsraum, da es sich in der Tat, wie wir in der nächsten Vorlesung sehen werden, um einen Vektorraum handelt.

Ein homogenes lineares Gleichungssystem besitzt immer die sogenannte triviale Lösung . Ein inhomogenes Gleichungssystem braucht nicht unbedingt eine Lösung haben. Zu einem inhomogenen linearen Gleichungssystem heißt das homogene System, das entsteht, wenn man den Störvektor gleich setzt, das zugehörige homogene System.


Es sei ein Körper und . Im seien Vektoren (oder -Tupel)

gegeben und sei

ein weiterer Vektor. Wir wollen wissen, wann sich als Linearkombination„Linearkombination“ der darstellen lässt. Es geht also um die Frage, ob es Elemente mit der Eigenschaft

gibt. Die Gleichheit von Vektoren bedeutet, dass Übereinstimmung in jeder Komponente vorliegen muss, sodass dies zum linearen Gleichungssystem

führt.




Das Lösen von linearen Gleichungssystemen

Lineare Gleichungssysteme werden mit dem Eliminationsverfahren gelöst, bei dem nach und nach Variablen eliminiert werden und schließlich ein besonders einfaches äquivalentes Gleichungssystem entsteht, das direkte gelöst werden kann (bzw. von dem gezeigt werden kann, dass es keine Lösung besitzt).


Es sei ein Körper und seien zwei (inhomogene) lineare Gleichungssysteme zur gleichen Variablenmenge gegeben. Die Systeme heißen äquivalent, wenn ihre Lösungsmengen übereinstimmen.



Es sei ein Körper und

ein inhomogenes lineares Gleichungssystem über .

Dann führen die folgenden Manipulationen an diesem Gleichungssystem zu einem äquivalenten Gleichungssystem.

  1. Das Vertauschen von zwei Gleichungen.
  2. Die Multiplikation einer Gleichung mit einem Skalar .
  3. Das einfache Weglassen einer Gleichung, die doppelt vorkommt.
  4. Das Verdoppeln einer Gleichung (im Sinne von eine Gleichung zweimal hinschreiben).
  5. Das Weglassen oder Hinzufügen einer Nullzeile (einer Nullgleichung).
  6. Das Ersetzen einer Gleichung durch diejenige Gleichung, die entsteht, wenn man zu eine andere Gleichung des Systems addiert.

Die meisten Aussagen sind direkt klar. (2) ergibt sich einfach daraus, dass wenn

gilt, dass dann auch

für jedes gilt. Bei kann man diesen Übergang durch Multiplikation mit rückgängig machen.

(6). Es sei die Gleichung

und die Gleichung

Wenn ein Tupel die beiden Gleichungen erfüllt, so erfüllt es auch die Gleichung . Und wenn das Tupel die beiden Gleichungen und erfüllt, so auch die Gleichung und .


Für die praktische Lösung eines linearen Gleichungssystems sind die beiden Manipulationen (2) und (6) am wichtigsten, wobei man in aller Regel diese beiden Schritte kombiniert und eine Gleichung durch eine Gleichung der Form (mit ) ersetzt. Dabei wird so gewählt, dass die neue Gleichung eine Variable weniger besitzt als die alte. Man spricht von Elimination einer Variablen. Diese Elimination wird nicht nur für eine Zeile durchgeführt, sondern für alle Zeilen mit der Ausnahme von einer (geeignet gewählten) „Arbeitszeile“ und mit einer fixierten „Arbeitsvariablen“. Das folgende Eliminationslemma beschreibt diesen Rechenschritt.


Es sei ein Körper und ein (inhomogenes) lineares Gleichungssystem über in den Variablen . Es sei eine Variable, die in mindestens einer Gleichung mit einem von verschiedenen Koeffizienten vorkommt.

Dann lässt sich jede von verschiedene[4] Gleichung durch eine Gleichung ersetzen, in der nicht mehr vorkommt, und zwar so, dass das neue Gleichungssystem , das aus und den Gleichungen besteht, äquivalent zum Ausgangssystem ist.

Durch Umnummerieren kann man erreichen. Es sei die Gleichung

(mit ) und die Gleichung

Dann hat die Gleichung

die Gestalt

in der nicht mehr vorkommt. Wegen sind die Gleichungssysteme äquivalent.



Jedes (inhomogene) lineare Gleichungssystem über einem Körper

lässt sich durch die in Lemma 5.7 beschriebenen elementaren Umformungen und durch das Weglassen von überflüssigen Gleichungen in ein äquivalentes lineares Gleichungssystem der Stufenform

überführen, bei dem alle Startkoeffizienten von verschieden sind.

Dabei ist bei die letzte Zeile überflüssig, oder aber, bei , das System besitzt keine Lösung.

Dies folgt direkt aus dem Eliminationslemma, mit dem man sukzessive Variablen eliminiert. Man wendet es auf die erste (in der gegebenen Reihenfolge) Variable (diese sei ) an, die in mindestens einer Gleichung mit einem von verschiedenen Koeffizienten auftaucht (wenn sie nur in einer Gleichung auftaucht, so ist im Eliminationsprozess nichts zu tun). Diese Eliminationsschritte wendet man solange an, solange das im Eliminationsschritt entstehende variablenreduzierte Gleichungssystem (also ohne die vorhergehenden Arbeitsgleichungen) noch mindestens eine Gleichung mit einem von verschiedenen Koeffizienten enthält. Zum Schluss bleiben nur Gleichungen ohne Variablen übrig. Diese sind entweder alle die Nullgleichung, oder aber das System besitzt keine Lösung.



Es sei ein inhomogenes lineares Gleichungssystem über einem Körper in Dreiecksgestalt

gegeben, wobei die Startkoeffizienten ungleich seien.

Dann stehen die Lösungen in Bijektion zu den Tupeln

D.h. insgesamt sind jeweils in der -ten Zeile die Variablen frei wählbar und legen eine eindeutige Lösung fest, und jede Lösung wird dabei erfasst.

Dies ist klar, da man eine Lösung eindeutig aus den Gleichungen rekonstruieren kann, wenn man die Stellen weglässt. Von unten nach oben gelesen kann man aus die Komponente mit Hilfe der letzten Gleichung als

erhalten, die Komponente kann man aus mit Hilfe der vorletzten Gleichung als

erhalten, u.s.w.


Bei gibt es keine freien Variablen und es ist und das Gleichungssystem besitzt genau eine Lösung.


Wir wollen das inhomogene lineare Gleichungssystem

über (oder ) lösen. Wir eliminieren zuerst , indem wir die erste Zeile beibehalten, die zweite Zeile durch und die dritte Zeile durch ersetzen. Das ergibt

Wir könnten jetzt aus der (neuen) dritten Zeile mit Hilfe der zweiten Zeile eliminieren. Wegen der Brüche eliminieren wir aber lieber (dies eliminiert gleichzeitig ). Wir belassen also die erste und zweite Zeile und ersetzen die dritte Zeile durch . Dies ergibt, wobei wir das System in einer neuen Reihenfolge der Variablen[5] aufschreiben, das System

Wir können uns nun beliebig (oder „frei“) vorgeben. Die dritte Zeile legt dann eindeutig fest, es muss nämlich

gelten. In der zweiten Gleichung können wir wieder beliebig vorgeben, was dann eindeutig festlegt, nämlich

Die erste Zeile legt dann fest, nämlich

Daher kann man die Gesamtlösungsmenge als

schreiben. Eine besonders einfache Lösung ergibt sich, wenn man die freien Variablen und gleich setzt. Dies führt auf die spezielle Lösung

In der allgemeinen Lösung kann man und als Koeffizienten rausziehen und dann die Lösungsmenge auch als

schreiben. Dabei ist

eine Beschreibung der allgemeinen Lösung des zugehörigen homogenen linearen Gleichungssystems.




Fußnoten
  1. Sinnvoll interpretierbar sind in diesem Beispiel nur positive Zahlen, da man schwerlich aus einem Glühweingemisch die einzelnen verwendeten Glühweinsorten wieder herausziehen kann. In der linearen Algebra spielt sich aber alles über einem Körper ab, sodass wir auch negative Zahlen zulassen.
  2. An dieser Stelle diskutieren wir nicht, dass solche Gleichungen Ebenen beschreiben. Die Lösungsmengen sind „verschobene Untervektorräume der Dimension zwei“.
  3. Ein solcher Vektor heißt manchmal ein Störvektor des Systems.
  4. Mit verschieden ist hier gemeint, dass die beiden Gleichungen einen unterschiedlichen Index im System haben. Es ist also sogar der Fall erlaubt, dass und dieselbe, aber doppelt aufgeführte Gleichung ist.
  5. Eine solche Umstellung ist ungefährlich, wenn man den Namen der Variablen mitschleppt. Wenn man dagegen das System in Matrizenschreibweise aufführt, also die Variablennamen einfach weglässt, so muss man sich diese Spaltenvertauschungen merken.



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