Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil II/Vorlesung 45
- Minkowski-Räume
Wir besprechen, wie man mit einer gewissen Bilinearform einen theoretischen Rahmen für die spezielle Relativitätstheorie angeben kann, in dem viele relativistische Phänome einfach beschrieben werden können. Die empirischen Grundlagen der speziellen Relativitätstheorie gehören zur Physik und können hier nicht behandelt werden.
Ein reeller Vektorraum der Dimension mit einer Bilinearform vom Typ heißt Minkowski-Raum.
Die Minkowski-Räume liefern ein einfaches Modell für die spezielle Relativitätstheorie,[1] man spricht auch von einem Einstein-Minkowski-Raum und die Bilinearform darauf heißt auch Minkowski-Form oder Lorentz-Form. Die klassische Raum-Zeit-Welt ist von der Form , wobei die dreidimensionale Komponente den Raum und die eindimensionale Komponente die Zeit repräsentiert. Darin ist grundsätzlich jede Bewegung von einem Punkt zu einem anderen möglich, solange der zweite Punkt zeitlich später als der erste Punkt ist. Entsprechend repräsentieren die Punkte in einem vierdimensionalen Minkowski-Raum die relativistischen Weltpunkte (die Ereignisse); eine Trennung in Raum und Zeit ist Beobachter-abhängig; die Theorie liefert auch eine Definition, was ein Beobachter ist, siehe unten. Eine besondere Rolle spielt die Menge der Vektoren
die in diesem Zusammenhang der Lichtkegel heißt. Gemeint ist damit die Menge aller Lichtstrahlen, die in einem Weltpunkt eingehen und ausgehen. Dieser Lichtkegel ist gemäß der speziellen Relativitätstheorie Beobachter-unabhängig (absolut), und eben dies wird durch die Minkowski-Räume modelliert. Man erlaubt grundsätzlich jede Dimension, die wesentlichen Phänomene sind schon bei sichtbar. Die bezüglich der Standardbasis des durch die Gramsche Matrix
gegebene Minkowski-Form heißt Minkowski-Standard-Form. Gemäß dem Trägheitssatz von Sylvester kann man jede Minkowski-Form bezüglich einer geeignet skalierten Orthogonalbasis (einer Minkowski-Basis) auf diese Gestalt bringen.
Es sei ein Minkowski-Raum mit der Minkowski-Form . Ein Vektor mit
heißt lichtartig, ein Vektor mit
heißt zeitartig und ein Vektor mit
heißt raumartig.
Achtung, diesen Eigenschaften definieren keine Untervektorräume, die Summe von zwei raumartigen Vektoren muss im Allgemeinen nicht wieder raumartig sein.
Nicht alle Vektoren bzw. (linearen) Bewegungsvorgänge in dieser Raum-Zeit-Licht-Welt sind für einen (materiellen) Beobachter realisierbar, im Gegenteil gehört die folgende Einschränkung wesentlich zu diesem Weltmodell.
Es sei ein Minkowski-Raum mit einer Minkowski-Form . Die Vektoren mit
heißen Beobachtervektoren oder Vierergeschwindigkeit eines Beobachters.
Der Begriff Beobachter suggeriert eine physikalische Interpretation; man kann sich darunter eine Person vorstellen, wichtig ist aber, dass dies keinen subjektiven Gehalt hat. Der Beobachter hat eine Uhr, einen Meterstab und einen Winkelmesser im Gepäck und jeder Beobachter, der die gleiche Bewegung durchführt, kommt zu den gleichen Messungen. Statt mit der Bedingung wird ein Beobachtervektor häufig auch durch die Bedingung angesetzt, wobei die Lichtgeschwindigkeit repräsentiert. Diese ist aber nur eine Umskalierung.
Die zuletzt genannten Beobachtervektor sind insbesondere zeitartig, da jeder Beobachter älter wird, die Zeit bewegt sich also auch für einen „räumlich ruhenden“ Beobachter. Die Gerade ist ein Untervektorraum der Dimension , auf dem die eingeschränkte Form negativ definit ist. Es sei der dazu (bezüglich der Minkowski-Form) senkrechte Untervektorraum. Dies ist ein dreidimensionaler Raum, auf dem die eingeschränkte Form positiv definit ist. Dieser Untervektorraum ist der Raum für diesen Beobachter (oder , wenn den Beobachter bezeichnet) und ist seine Zeitachse. Für einen Beobachter besteht also eine Zerlegung des Gesamtraumes der Form , nur diese Zerlegung hängt eben vom Beobachter ab. Man spricht auch von dem Bezugssystem des Beobachters. Die positiv definite Einschränkung der Minkowski-Form auf seine Raumkomponente ist ein Skalarprodukt, mit dem der Beobachter Längen und Winkel misst und auch in seinem Raum eine Orthonormalbasis fixieren kann. Für einen Beobachter mit der erlaubten Vierergeschwindigkeit gibt es also insbesondere eine Orthogonalbasis mit
und
Bezüglich einer solchen Minkowski-Basis wird die Minkowski-Form einfach durch
als Gramsche Matrix beschrieben. Ein Großteil der relativistischen Phänome zeigt sich in diesem Modell beim Basiswechsel von zwei solchen Basen (bei einem Wechsel des Bezugssystems), wobei der wesentliche Punkt der Wechsel der Zerlegung in Raum- und Zeitkomponente ist.
Wenn ein Beobachtervektor ist, so ist nach Definition auch ein Beobachtervektor. Dieser Beobachter bewegt sich in die entgegengesetzte Zeitrichtung. Insgesamt zerfällt die Menge aller Beobachtervektoren in zwei Schalen, wobei wir eine als die Zukunftsschale auszeichnen. Ebenso zerfällt der Lichtkegel in zwei Kegel, den Zukunfts- und den Vergangenheitskegel. Zwei Beobachter heißen gleichgerichtet, wenn sie der gleichen Schale angehören, also beide in die Zukunft (oder in die Vergangenheit) weisen.
Es sei ein Minkowski-Raum mit der Minkowski-Form . Dann gelten folgende Aussagen.
- Zu jedem
Beobachtervektor
ist
eine direkte Summenzerlegung, wobei die Einschränkung der Minkowski-Form auf negativ definit und die Einschränkung der Minkowski-Form auf positiv definit ist. Dabei besteht aus raumartigen Vektoren.
- Für zwei gleichgerichtete Beobachtervektoren
ist
- Für
zeitartige Vektoren
ist
Siehe Aufgabe 45.4, Aufgabe 45.10 und Aufgabe 45.12.
Die Bedingung, dass die Beobachtergeschwindigkeiten
erfüllen müssen, ist eine große Einschränkung an mögliche Bewegungsvorgänge. Wenn eine Minkowski-Basis fixiert ist, so ist ein Beobachtervektor
genau dann, wenn
(und , das ergibt sich aus der Zukunftsrichtung) ist.
In einem vierdimensionalen Standard-Minkowski-Raum soll etwas vom Punkt zum Punkt gleichmäßig bewegt werden. Im klassischen Ansatz ist einfach der Verbindungsvektor
zu wählen. Dieser ist aber im Allgemeinen kein Beobachtervektor und der anvisierte Bewegungsvorgang ist dann nicht realisierbar. Wenn negativ ist, was inhaltlich bedeutet, dass ein zeitartiger Vektor vorliegt, so kann man den Vektor aber zu einem Beobachtervektor
umskalieren. Es beschreibt dann
ein Bewegungsvorgang, der für im Punkt startet und für im Punkt endet und der physikalisch durchführbar ist.
Zu einer Vierergeschwindigkeit eines Beobachters mit der Zerlegung
nennt man die Punkte der Form mit einem fixierten den Raum zum Zeitpunkt . Die Punkte daraus heißen gleichzeitig für den Beobachter . Für einen anderen Beobachter mit der Vierergeschwindigkeit sind diese Punkte nicht gleichzeitig. Sein Gleichzeitigkeitskonzept beruht auf seine, von abhängige Zerlegung der Welt in seine Raum- und Zeitkomponente. Wenn beispielsweise die zweite Vierergeschwindigkeit bezüglich einer Minkowski-Basis des ersten Beobachters durch gegeben ist, so ist
eine Orthonormalbasis der Raumkomponente des zweiten Beobachters. Die für den ersten Beobachter gleichzeitigen Ereignisse und sind für den zweiten Beobachter nicht gleichzeitig, da der erste Vektor die gleiche Beschreibung besitzt und der zweite Vektor gleich
ist. Seine Zeitkomponente bezüglich des zweiten Beobachtervektors ist also .
Wir vergleichen nun Geschwindigkeiten von Beobachtern untereinander.
Es sei ein Minkowski-Raum und seien und Beobachter mit den Vierergeschwindigkeiten und . Dann nennt man den Vektor
den Geschwindigkeitsvektor von relativ zu . Man nennt
die Relativgeschwindigkeit der beiden Beobachter.
Der relative Geschwindigkeitsvektor ist ein Vektor. Beachte, dass nach Lemma 45.4 (3) und daher die Relativgeschwindigkeit eine wohldefinierte nichtnegative reelle Zahl ist, die durch beschränkt ist. Die Relativgeschwindigkeit ist symmetrisch in und , hingegen ist
im Allgemeinen von verschieden. Da die Lichtgeschwindigkeit zu normiert ist, sollte man sich diese Relativgeschwindigkeiten klein vorstellen. Bei ist die Relativgeschwindigkeit gleich .
Es sei ein Minkowski-Raum und seien und gleichgerichtete Beobachter mit den Vierergeschwindigkeiten und . Dann gelten folgende Aussagen.
- Der Relativgeschwindigkeitsvektor steht senkrecht auf .
- Der Relativgeschwindigkeitsvektor ist
raumartig
und es gilt
- Es ist
- Es ist
die Zerlegung von in die Raum- und die Zeitkomponente von .
- Der Zeitkoeffizient von bezüglich ist .
- Es ist
sodass diese Vektoren orthogonal zueinander sind. Somit gehört zur Raumkomponente zu .
- Es ist
- Dies folgt direkt aus der Definition
durch eine einfache Umstellung, wenn man berücksichtigt, dass
ist.
- Aus
und (3) ergibt sich
Nach Teil (1) gehört zur Raumkomponente zu .
- Aus (4) ist direkt ablesbar, dass der Zeitkoeffizient von bezüglich gleich ist.
Das in der fünften Aussage des vorstehenden Lemmas formulierte Prinzip heißt Zeitdilatation. Ein Beobachter beobachtet für einen weiteren Beobachter eine längere Zeit als dieser in seinem Bezugsystem.
- Fußnoten
- ↑ Die allgemeine Relativitätstheorie wird mathematisch durch pseudoriemannsche Mannigfaltigkeiten beschrieben, bei denen die hier besprochenen Minkowski-Räume die lokale Situation wiedergeben. Wichtige Stichworte sind Gravitation, Äquivalenzprinzip, Feldgleichung, gekrümmter Raum.
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