Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2020-2021)/Teil I/Vorlesung 7

Dies ist Dr. Ines Eisenbeis. Sie ist für die wissenschaftliche Begleitung des Projektes Vorlesungshund verantwortlich. Ihre Arbeitshypothesen sind: 1) Studierende gehen lieber zur Vorlesung, 2) Außenseiter werden aus ihrer Isolation geholt, 3) Auffälligkeiten reduzieren sich, 4) Positive Sozialkontakte werden gefördert, 5) Profs werden mehr beachtet.



Approximation

Ein grundlegender Gedanke der Mathematik ist der der Approximation, der in unterschiedlichen Kontexten auftritt und sowohl für die Mathematik als Hilfswissenschaft für die empirischen Wissenschaften als auch für den Aufbau der Mathematik selbst, insbesondere der Analysis, entscheidend ist.

Das erste Beispiel dazu ist das Messen, beispielsweise der Länge einer Strecke oder der Dauer eines Zeitabschnittes. Abhängig vom Kontext und der Zielsetzung gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine genaue Messung ist, und die gewünschte Genauigkeit hat eine Auswirkung auf das zu wählende Messinstrument.

Das Ergebnis einer Messung wird, bezogen auf eine physikalische Einheit, durch einen Dezimalbruch angegeben, also eine abbrechende „Kommazahl“, und die Anzahl der Nachkommaziffern gibt Aufschluss über die behauptete Genauigkeit. Zur Angabe von Messergebnissen braucht man also weder irrationale Zahlen noch rationale Zahlen, deren periodische Ziffernentwicklung nicht abbricht.

Betrachten wir die Meteorologie. Aus Messungen an verschiedenen Messstationen wird versucht, das Wetter der folgenden Tage mit mathematischen Modellen (und Computersimulation) zu berechnen. Hier wird man, um bessere Prognosen machen zu können, im Allgemeinen mehr Messstationen brauchen (wobei man irgendwann aufgrund von anderen Fehlerquellen mit zusätzlichen Messstationen die Prognosen nicht mehr optimieren kann).

Kommen wir zu innermathematischen Approximationen. Eine Strecke kann man zumindest ideell in gleichlange Teile unterteilen und man kann sich für die Länge der Teilstücke interessieren, oder man kann sich für die Länge der Diagonalen in einem Einheitsquadrat interessieren. Die Länge dieser Strecken könnte man prinzipiell auch messen, doch bietet die Mathematik bessere Beschreibungen dieser Längen an, indem sie beliebige rationale Zahlen und irrationale Zahlen (wie hier ) zur Verfügung stellt. Die Bestimmung einer guten Approximation erfolgt dann innermathematisch. Betrachten wir den Bruch . Eine Approximation dieser Zahl mit einer Genauigkeit von neun Nachkommastellen ist durch

gegeben. Die beiden Dezimalbrüche links und rechts sind also Approximationen (Abschätzungen) des wahren Bruches mit einem Fehler, der kleiner als ist. Dies ist eine typische Taschenrechnergenauigkeit, je nach Zielsetzung möchte man eine deutliche größere Genauigkeit (einen kleineren Fehler) haben. Die Rechnung in diesem Beispiel beruht auf dem Divisionsalgorithmus, den man beliebig weit durchführen kann, um beliebige Fehlergenauigkeiten zu erreichen (dass man wegen der auftretenden Periodizität irgendwann nur noch die weiteren Ziffern ablesen und nicht mehr rechnen muss, ist ein zusätzlicher Aspekt). Die Angabe einer Dezimalbruchapproximation einer gegebenen Zahl nennt man auch eine Rundung.

Sowohl in der empirischen als auch in der innermathematischen Situation gilt das folgende Approximationsprinzip.

Approximationsprinzip: Es gibt keine allgemeingültige Güte für eine Approximation. Ein gutes Approximationsverfahren ist keine einzelne Approximation, sondern eine Methode, mit der man zu jeder gewünschten Güte (Fehler, Toleranz, Genauigkeit, Abweichung) bei entsprechendem Aufwand eine Approximation finden kann, die diese vorgegebene Güte erreicht.

Mit diesem Prinzip im Hinterkopf werden viele Begriffe wie konvergente Folge und Stetigkeit, deren präzise Formulierungen ziemlich kompliziert aussehen, verständlich.

Approximationen treten auch in dem Sinne auf, dass man empirische Funktionen, von denen ein endliches Datensampling bekannt ist, durch mathematisch möglichst einfache Funktionen beschreiben möchte. Ein Beispiel dazu ist der Interpolationssatz. Später werden wir die Taylorformel kennenlernen, die eine Funktion in einer kleinen Umgebung eines einzelnen Punktes besonders gut durch ein Polynom approximiert. Auch hier gilt wieder das Approximationsprinzip in der Form, dass man, um die Funktion zunehmend besser zu approximieren, den Grad der Polynome zunehmend höher wählen muss. In der Integrationstheorie wird ein Funktionsgraph durch obere und untere Treppenfunktionen eingeschachtelt und damit der Flächeninhalt unterhalb des Graphen approximiert, mit feineren Treppenfunktionen (kürzeren Stufen) erhält man zunehmend bessere Approximationen.

Wie gut eine Approximation ist, zeigt sich oft erst dann, wenn man mit den Approximationen rechnen soll. Man möchte beispielsweise wissen, welche Abschätzung man für den Flächeninhalt eines Rechtecks hat, wenn man Abschätzungen für seine Seitenlängen hat. Und zwar fragt man sich, welchen Fehler man für die Seitenlängen erlauben darf, damit der Fehler des Flächeninhalts noch innerhalb einer gewünschten Toleranz bleibt.

Wir werden uns nun als Beispiel mit Quadratwurzeln beschäftigen und wie man diese approximieren kann, und zwar, wie man sie als den Limes einer Folge erhalten kann. Wir haben in der vierten Vorlesung gesehen, dass es keine einfachere Beschreibung für Quadratwurzeln aus Primzahlen gibt, da diese im Allgemeinen irrational sind.



Reelle Zahlenfolgen

Wir beginnen mit einem motivierenden Beispiel.


Wir wollen die Quadratwurzel einer natürlichen Zahl „berechnen“, sagen wir von . Eine solche Zahl mit der Eigenschaft gibt es nicht innerhalb der rationalen Zahlen, wie aus der eindeutigen Primfaktorzerlegung folgt. Wenn ein solches Element ist, so hat auch diese Eigenschaft. Mehr als zwei Lösungen kann es aber nach Korollar 6.6 nicht geben, sodass wir nur nach der positiven Lösung suchen müssen.

Obwohl es innerhalb der rationalen Zahlen keine Lösung für die Gleichung gibt, so gibt es doch beliebig gute Approximationen innerhalb der rationalen Zahlen dafür. Beliebig gut heißt dabei, dass der Fehler (oder die Abweichung) unter jede gewünschte positive Schranke gedrückt werden kann. Das klassische Verfahren, um eine Quadratwurzel beliebig anzunähern, ist das Heron-Verfahren, das man auch babylonisches Wurzelziehen nennt. Dies ist ein iteratives Verfahren, d.h., die nächste Approximation wird aus den vorausgehenden Approximationen berechnet. Beginnen wir mit als erster Näherung. Wegen

ist zu klein, d.h. es ist . Aus (mit positiv) folgt zunächst und daraus , d.h. . Man hat also die Abschätzungen

wobei rechts eine rationale Zahl steht, wenn links eine rationale Zahl steht. Eine solche Abschätzung vermittelt offenbar eine quantitative Vorstellung darüber, wo liegt. Die Differenz ist ein Maß für die Güte der Approximation.

Beim Startwert ergibt sich, dass die Quadratwurzel zwischen und liegt. Man nimmt nun das arithmetische Mittel der beiden Intervallgrenzen, also

Wegen ist dieser Wert zu groß und daher liegt im Intervall . Von diesen Intervallgrenzen nimmt man erneut das arithmetische Mittel und setzt

als nächste Approximation. So fortfahrend erhält man eine immer besser werdende Approximation von .


Allgemein ergibt sich das folgende Heron-Verfahren.


Beim Heron-Verfahren zur näherungsweisen Berechnung von einer positiven Zahl geht man iterativ wie folgt vor. Man startet mit einem beliebigen positiven Startwert und berechnet davon das arithmetische Mittel aus und . Dieses Mittel nennt man . Es gilt

D.h. dass mindestens so groß wie ist. Auf wendet man iterativ das gleiche Verfahren an und erhält so usw. Die rekursive Definition von lautet also

Nach Konstruktion weiß man, dass in jedem Intervall (für ) liegt, da aus direkt folgt. Bei jedem Schritt gilt

d.h. das Nachfolgerintervall liegt innerhalb des Vorgängerintervalls. Dabei wird bei jedem Schritt die Intervalllänge mindestens halbiert.


Das eben beschriebene Verfahren liefert also zu jeder natürlichen Zahl eine reelle Zahl, die eine durch eine gewisse algebraische Eigenschaft charakterisierte Zahl beliebig gut approximiert. Bei vielen technischen Anwendungen genügt es, gewisse Zahlen nur hinreichend genau zu kennen, wobei allerdings die benötigte Güte der Approximation von der technischen Zielsetzung abhängt. Es gibt im Allgemeinen keine Güte, die für jede vorstellbare Anwendung ausreicht, so dass es wichtig ist zu wissen, wie man eine gute Approximation durch eine bessere Approximation ersetzen kann und wie viele Schritte man machen muss, um eine gewünschte Approximation zu erreichen. Dies führt zu den Begriffen Folge und Konvergenz.


Eine reelle Folge ist eine Abbildung

Eine Folge wird zumeist als , oder einfach nur kurz als geschrieben. Die oben zu einem Startglied rekursiv definierten Zahlen zur Berechnung von sind ein Beispiel für eine Folge. Manchmal sind Folgen nicht für alle natürlichen Zahlen definiert, sondern nur für alle natürlichen Zahlen . Alle Begriffe und Aussagen lassen sich dann sinngemäß auch auf diese Situation übertragen.


Es sei eine reelle Folge und es sei . Man sagt, dass die Folge gegen konvergiert, wenn folgende Eigenschaft erfüllt ist

Zu jedem positiven , , gibt es ein derart, dass für alle die Abschätzung

gilt. In diesem Fall heißt der Grenzwert oder der Limes der Folge. Dafür schreibt man auch

Wenn die Folge einen Grenzwert besitzt, so sagt man auch, dass sie konvergiert (ohne Bezug auf einen Grenzwert.), andernfalls, dass sie divergiert.

Man sollte sich dabei das vorgegebene als eine kleine, aber positive Zahl vorstellen, die eine gewünschte Zielgenauigkeit (oder erlaubten Fehler) ausdrückt. Die natürliche Zahl ist dann die Aufwandszahl, die beschreibt, wie weit man gehen muss, um die gewünschte Zielgenauigkeit zu erreichen, und zwar so zu erreichen, dass alle ab folgenden Glieder innerhalb dieser Zielgenauigkeit bleiben. Konvergenz bedeutet demnach, dass man jede gewünschte Genauigkeit bei hinreichend großem Aufwand auch erreichen kann. Je kleiner der Fehler, also je besser die Approximation sein soll, desto höher ist im Allgemeinen der Aufwand. Statt mit beliebigen positiven reellen Zahlen kann man auch mit den Stammbrüchen, also den rationalen Zahlen , , arbeiten, siehe Aufgabe 7.7, oder mit den inversen Zehnerpotenzen , .

Zu einem und einer reellen Zahl nennt man das Intervall auch die -Umgebung von . Eine Folge, die gegen konvergiert, heißt Nullfolge.




Eine konstante Folge ist stets konvergent mit dem Grenzwert . Dies folgt direkt daraus, dass man für jedes als Aufwandszahl nehmen kann. Es ist ja

für alle .

Die Folge

ist konvergent mit dem Grenzwert . Es sei dazu ein beliebiges positives vorgegeben. Aufgrund des Archimedes Axioms gibt es ein mit . Insgesamt gilt damit für alle die Abschätzung



Wir betrachten die Folge

mit genau Nachkommaziffern und behaupten, dass diese Folge gegen konvergiert. Dazu müssen wir bestimmen, und dafür müssen wir uns an die Bedeutung von Dezimalbrüchen erinnern. Es ist

und somit ist

Wenn nun ein positives vorgegeben ist, so ist für hinreichend groß dieser letzte Term .




Eine reelle Folge

besitzt maximal einen Grenzwert.

 Nehmen wir an, dass es zwei verschiedene Grenzwerte , , gibt. Dann ist . Wir betrachten . Wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit

und wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit

Beide Bedingungen gelten dann gleichermaßen für . Es sei mindestens so groß wie dieses Maximum. Dann ergibt sich aufgrund der Dreiecksungleichung der Widerspruch



Beschränktheit

Eine Teilmenge der reellen Zahlen heißt beschränkt, wenn es reelle Zahlen mit gibt.

Man nennt dann auch eine obere Schranke von und eine untere Schranke von . Diese Begriffe werden auch für Folgen angewendet, und zwar für die Bildmenge . Für die Folge , , ist eine obere Schranke und eine untere Schranke.



Es sei die konvergente Folge mit dem Limes und es sei ein gewählt. Aufgrund der Konvergenz gibt es ein derart, dass

Dann ist insbesondere

Unterhalb von gibt es nur endlich viele Zahlen, sodass das Maximum

wohldefiniert ist. Daher ist eine obere Schranke und eine untere Schranke für .


Es ist einfach, beschränkte, aber nicht konvergente Folgen anzugeben.


Die alternierende Folge

ist beschränkt, aber nicht konvergent. Die Beschränktheit folgt direkt aus für alle . Konvergenz liegt aber nicht vor. Wäre nämlich der Grenzwert, so gilt für positives und jedes ungerade die Beziehung

sodass es Folgenwerte außerhalb dieser -Umgebung gibt. Analog kann man einen negativ angenommen Grenzwert zum Widerspruch führen.




Das Quetschkriterium



Es seien und konvergente Folgen mit für alle .

Dann ist .

Beweis

Siehe Aufgabe 7.14.


Die folgende Aussage heißt Quetschkriterium.


Es seien und reelle Folgen. Es gelte

und

und konvergieren beide gegen den gleichen Grenzwert .

Dann konvergiert auch gegen .

Beweis

Siehe Aufgabe 7.15.



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