Schattenarbeit und Innere De-Kolonialisierung

Im Rahmen unseres Teilprojekts FRIDA im Forschungs- und Umsetzungsverbundprojekt "Demokratiefähigkeit bilden", gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, möchten wir einladen, gemeinsam gangbare Wege zu einer demokratiefördernden Bildung zu finden! Die aktuelle Bildungspraxis in Schulen und Hochschulen ist trotz der allgemein großen theoretischen Wertschätzung von Demokratie oft von Abwertung, Ausgrenzung, Bevormundung und Beschämung geprägt. Das betrifft sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden. Kann es sein, dass wir Bildungsakteure, wenn wir das ändern wollen, zuerst unsere eigenen inneren autoritären und unterdrückten Anteile erkennen und transformieren sollten? Konzepte und Bezeichnungen für innerspychische Selbst-Anteile finden sich z.B. unter den Begriffen "Dialogisches Selbst", "Voice Dialogue", "Inneres Team", "Schemamodi" oder "Ego-States".

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Deine Erfahrungen damit interessieren uns sehr. Teile sie uns gern über die Diskussionsseite hier oben links mit oder per mail an altner at ash-berlin.eu.

Zusammenfassung

Schattenarbeit und Soziale Plastik

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Wenden Menschen sich mutig ihrem Inneren zu, und üben sie sich geduldig darin, die gewohnten, lauten, im Alltag sehr dominanten inneren Stimmen zu beruhigen, indem sie die Wahrnehmung des Körpers und der Sinne kultivieren, dann hören sie mit der Zeit auch ihre leisen Selbstanteile.

Zunehmend kann es ihnen dann gelingen, gut und liebevoll für die Bedürfnisse ihres Organismus zu sorgen. Und sie werden sich dabei auch Aspekten ihrer Persönlichkeit bewusst, die sie als unsympathisch, peinlich und abstoßend bewerten. „Schattenarbeit“ nennt Erich Neumann (1949/1999) die Auseinandersetzung mit diesen schattenhaften Selbstanteilen in Weiterentwicklung der jungianischen Tiefenpsychologie.

Liebevoll und achtsam mitfühlend gehalten durch eine traumasensitive Begleitung oder durch mutig-selbstmitfühlende introspektive Bewusstseinspraxis kann diese Selbstbegegnung mit der Zeit zur Befreiung oder De-Kolonialisierung von inneren Anteilen beitragen, die bisher andere Ich-Aspekte abwerten, unterdrücken und diktatorisch dominieren. Vorsprachlich-bildnerisches Gestalten, vertrauensvolle verkörperte Gespräche oder auch Texte Schreiben, Poesie, Tanz und Musizieren unterstützen diese Prozesse der Selbst-Bildung, Transformation und Reifung.

 
Friis Heslighedens Landskab o.J., Sammlung Demirel

Joseph Beuys´ Aussage "jeder Mensch ist ein Künstler" im Kontext seines erweiterten Kunstbegriffs und der Sozialen Plastik eröffnet hier Bildungsräume jenseits kanonisierter Vorstellungen von Kunst.

Turhan Demirels Sammlung von Outsider-Kunst bewahrt z.B. viele Zeugnisse solch authentischer Gestaltungspraxis.


Können wir "leibhaftig demokratisch“ werden, wenn wir im Prozess des Ringens um innere De-Kolonialisierung uns bewusst den eigenen inneren Schattenanteilen zuwenden? Für mich spricht einiges dafür und ich lade interessierte PädagogInnen und SozialarbeiterInnen ein, das gemeinsam in einem vertrauensvollen Raum auszuprobieren, z.B. im online Format des achtsam verkörperten phenomänologischen Dialogs.

Innere De-Kolonialisierung

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Die nigerianisch-finnische Aktivistin Minna Salami beschreibt in ihrem wunderbaren Buch „Sinnliches Wissen“,

mit welcher Sprache und in welcher Haltung die Befreiung von inneren DiktatorInnen gelingen kann:

 
Link zum Buch

S. 88-90: „Wenn Dekolonialisierungsbestrebungen wahrhaft erfolgreich sein sollen, kommt es natürlich auf die Sprache an, aber die große sprachliche Frage von heute ist, ob wir auf die typisch roboterhafte und seelenlose Weise des europatriarchalischen Wissens an die Dekolonialisierung herangehen, oder ob die Sprache, die wir verwenden, das erwünschte Ergebnis selbst widerspiegelt. Wir sollten darauf achten, nicht mit dem „Handwerkszeug des Herren“ über die Dekolonialisierung des Denkens zu sprechen, als könnte diese durch irgendeine Formel gemessen und ausgewertet werden…

Man kann das koloniale Denken nicht entfernen, indem man gewaltsam Teile des eigenen Charakters und Verhaltens herausreißt. So funktioniert das Denken nicht. Man kann Gedanken nicht einfach loswerden, wie man etwa alte Möbel aus der Wohnung schaffen würde. All solche Versuche resultieren lediglich in Selbstzensur, kollektiver Täuschung und Paranoia. Dekolonialisierung des Denkens sollte stattdessen ein Gefühl von Einheit und Ruhe bewirken…

Stellen Sie sich Ihr Denken als einen Garten vor… Während wir im Garten des Denkens liegen, können wir beobachten, wie jede einzelne vergiftete Rinde und jede einzelne aufblühende Knospe einen Weg finden, gemeinsam in diesem umschlossenen Raum zu existieren. Im Garten des Denkens zu meditieren, bedeutet zu bemerken, was real und was falsch ist. Es bedeutet, sich um die Wiedererlangung und Genesung verlorener Erinnerungen und verlorenen Selbstwerts zu kümmern. Die Dekolonialisierung des Denkens ist ein Prozess des Einfühlens und Neueinfügens, des Imaginierens und Neuimaginierens, des Formens und Neuformens. Am Ende wird mithilfe dessen, was aus der Vergangenheit benötigt wird, etwas Neues geschaffen.“

 
Link zum Heft

Können und wollen Lehrkräfte auf diesem Weg lernen, ihre innere Demokratie zu bilden und zu verkörpern als Basis für ihre leibhaftig demokratiefördernde Bildungsarbeit? Eine Studentin hat mir am Semesterende das Feedback gegeben, dass sie bisher in noch keiner Lehrveranstaltung einen so kleinen Machtunterschied zwischen Lernenden und Lehrendem gespürt hätte, wie in meinem Seminar. Das freut mich und ich frage mich, woran das lag.

Radikale Stille in der Bildung und der Sozialen Arbeit

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Beim Nachspüren und Nachdenken zu meinen Erfahrungen in diesem Semester ist mir SEHR deutlich geworden, wie bodenbereitend "radikal" wichtig gemeinsame wohltuende Stilleerfahrungen im Unterrichtskontext sein können. Denn in der äußeren Stille kann sich ein machtfreier gemeinsamer Erfahrungs- und Begegnungsraum öffnen. Und in der inneren Stille kommen dann, auch durch diesen temporär machtfreien Raum unterstützt, die dominanten Selbstanteile zur Ruhe und das ganze innere SEIN mit all seinen lauten, leisen, hellen, dunklen, unterdrückenden und unterdrückten Anteilen darf sein.

What a relief!


Was geschieht in der Stille?

 
FLY Kippbild

Wenn die äußeren Impulse für eine Weile reduziert werden, und da scheinen z.B. drei Minuten gemeinsames, vertrauensvoll innenfokussiertes Stillsein vor einer Teambesprechung schon wirksam zu sein, eröffnet das den Wahrnehmungs- und Gewahrseinsraum jeder Person für ihre innerpsychischen Prozesse. D.h. das sonst im Alltag vorbewusst ablaufende Wechselspiel von Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen, Selbstinstruktionen, Bewertungen, Handlungs- und Inhibitionsimpulsen kann ins Bewusstsein treten. Dieser Fokuswechsel der Aufmerksamkeit ist vergleichbar mit der Umkehr der Wahrnehmung von Figur und Grund bei den sogenannten Kippbildern wie z.B. diesem:

 
Das Diagramm basiert in Annäherung auf Joseph Campbells und insbesondere auf Christopher Voglers Ausarbeitungen.


Nährt vielleicht die innere De-Kolonialisierung durch mutiges Zuwenden und bewusstes SEIN-LASSEN aller Selbstanteile im stillen, körpergegründeten Gewahrsein den Boden für die innere Demokratisierung? Kann sich dabei mit Zeit und Übung die Vielfalt der diversen, zum Teil auch widersprüchlichen Selbst-Anteile zu einem friedlich verbundenen, ambiguitätstoleranten Persönlichkeitsganzen integrierten? Archetypische Beschreibungen dieser inneren Ent-Wicklung finden sich kulturübergreifend in den Etappen der Heldenreise, die auch vielen Märchen zugrunde liegen. Und bräuchte es vielleicht solch gelassene, oder "weise" Persönlichkeiten, um im Außen eine fürsorgliche, gerechte, friedliche, regenerative und demokratisch gemeinwohlorientierte Bildung zu gestalten?


Was denkt ihr, ist das ein Weg, den wir versuchen wollen und können zu gehen? Oder ist das naiv und unrealistisch?

Modelle der menschlichen Entwicklung, wie z.B. das von Claire Graves, bieten eine Landkarte des inneren Wachstums von ego-zentrierten und machtbedürftigen Stufen hin zu kooperativen und co-kreativ gemeinschaftsorientierten. Frederic Laloux´ Übertragung grundlegender Entwicklungsstufen auf die Gestaltung von Organisationen ist in diesem Video anschaulich zusammengefasst: https://www.youtube.com/watch?v=g0Jc5aAJu9g&t=18s


Diese Seite ist Bestandteil des Forschungsprojekts FRIDA - Friedensfähigkeit, Innere Demokratisierung und Achtsamkeit

im Forschungsverbund "Demokratiefähigkeit bilden".

Unsere Vorträge und Veröffentlichungen zu den Themen des Projekts finden sich hier.


Siehe auch

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FRIDA - Friedensfähigkeit, Innere Demokratisierung und Achtsamkeit in der Bildung

Spiel-Ideen zur Ent-Wicklung pro-demokratischer Haltungen an Hochschulen und Schulen

FRIDA-Methoden im Unterricht: Operationalisierung demokratiefördernder Lehr-Lern-Formate

Delll: Methodensammlung Demokratie lebendig lehren & lernen

Inner Development Goals - Ziele der inneren Entwicklung

Schattenarbeit und Innere De-Kolonialisierung

Code of democratic Ethics in der Bildung

MiMos-Lebendiges Wissen - Sinnliches Wissen

Lehren mit Mitgefühl

Friedensvertrag