Kurs:Algebraische Kurven (Osnabrück 2017-2018)/Vorlesung 1



Ebene algebraische Kurven

Was ist eine algebraische Kurve? Zum Beispiel das, was auf den folgenden schönen Bildern zu sehen ist:



Nun kann man natürlich viel malen. Schön sind auch die folgenden Kurven, doch das sind keine algebraischen Kurven:


Das „algebraisch“ in algebraische Kurve kommt daher, dass zu ihrer Definition nur algebraische Operationen verwendet werden dürfen, d.h. Addition und Multiplikation, nicht aber analytische Prozesse wie Limes nehmen, unendliche Summen, Approximieren, Differenzieren und Integrieren. Die erlaubten Abbildungen in unserem Kontext sind durch Polynome in mehreren Variablen gegeben. In den obigen Bildern geht es um ebene algebraische Kurven, die durch ein Polynom in zwei Variablen definiert werden. Die beiden ersten Bilder sind Graphen zu einer polynomialen Funktion in einer Variablen, sie werden beschrieben durch

wobei im ersten Bild ist (es liegt also ein lineares Polynom vor) und im zweiten Bild etwas wie

mit gewissen Koeffizienten aus einem Körper vorliegt. In der algebraischen Geometrie fixiert man einen Grundkörper . Wichtige Körper sind für uns die reellen Zahlen (insbesondere sind die Bilder so zu verstehen!) oder die komplexen Zahlen . Ein solcher Graph ist insofern ein einfaches Gebilde, dass es zu jedem Wert für genau einen Wert für (den Funktionswert) gibt, und den man auch noch einfach ausrechnen kann, wenn man im gegebenen Körper rechnen kann. Der Graph ist in gewissem Sinne eine „gebogene“ Kopie der Grundlinie, der -Achse.

Betrachten wir das dritte Bild. Das ist der Graph einer rationalen Funktion, d.h. man hat zwei Polynome in einer Variablen und schaut sich den Quotienten an. Dieser Ausdruck ergibt nur dort Sinn, wo der Nenner nicht ist. An den Nullstellen des Nennerpolynoms ist die rationale Funktion nicht definiert (wenn Nenner und Zähler an der gleichen Stelle sind, so kann man durch kürzen manchmal erreichen, dass der Quotient auch an dieser Stelle einen Sinn bekommt). Wenn der Nenner ist, der Zähler aber nicht, so ist die Undefiniertheitsstelle ein „Pol“ - der reelle Graph strebt nach bzw. - Es ist verlockend zu sagen, dass der Wert der rationalen Funktion an diesen undefinierten Stellen „unendlich“ ist, und im Kontext der projektiven Geometrie macht das durchaus Sinn, wie wir später sehen werden. Die „Graphengleichung“ ist jedenfalls wegen den Undefinierbarkeitsstellen keine optimale Beschreibung für die Kurve. Wenn man sie hingegen mit dem Nenner multipliziert, so erhält man die Bedingung (oder Gleichung)

in der links und rechts wohldefinierte Polynome stehen. Die Erfüllungsmenge (oder Lösungsmenge) ist eindeutig definiert, wobei bei für ein bestimmtes die linke Seite null ist, und es dann dort bei keine Lösung gibt (wie im Bild) und bei jeder -Wert erlaubt ist. In letzterem Fall gehört also eine zur -Achse senkrechte Gerade durch zu dem Gebilde.


Ein typisches und wichtiges Beispiel für eine rationale Funktion ist . Den zugehörigen Graphen nennt man Hyperbel . Nennerfrei geschrieben ergibt sich die Gleichung

Diese rationale Funktion ist auf eine echte Funktion (mit als Graphen) und stiftet eine „natürliche“ Bijektion

und sind also in einem später zu präzisierenden Sinn „äquivalent“ oder „isomorph“.

Beide Beschreibungen haben etwas für sich. Die Beschreibung als spielt sich auf einer Geraden ab (wenn man an denkt), dafür gehört der Punkt , der ein Häufungspunkt von ist, nicht zu . D.h., ist nicht abgeschlossen. Dagegen ist die Hyperbel in abgeschlossen, für die abgeschlossene Realisierung muss man also in eine höhere Dimension gehen. Die Frage, was eine gute Beschreibung für ein Objekt der algebraischen Geometrie ist, wird immer wieder auftauchen.

Im reellen Fall, also bei , besteht (und entsprechend ) aus zwei disjunkten „Zweigen“, ist also nicht zusammenhängend. Im komplexen Fall, also bei , ist (und entsprechend ) eine punktierte reelle Ebene, also zusammenhängend. Dies ist ein typisches Phänomen der algebraischen Geometrie, dass wichtige Eigenschaften vom Grundkörper abhängen. Besonders wichtig sind dann aber Eigenschaften, die nur von den beschreibenden Gleichungen abhängen und für die Lösungsmengen zu allen Körpern gelten.


Das vierte Bild ist ein Kreis, seine Gleichung ist , wobei den Radius des Kreises bezeichnet. Schon das Bild zeigt, dass dieses Gebilde nicht der Graph einer Funktion (Abbildung) sein kann, da bei einem Graphen zu einem -Wert stets genau ein -Wert gehört. Man kann aber keine Funktion finden mit und .

Die Frage, ob man ein algebraisches Lösungsgebilde als einen Graphen realisieren kann, ist äquivalent dazu, ob man die definierende Gleichung nach „auflösen“ kann. Im Beispiel kann man und damit schreiben. Ist es also doch ein Graph? Hier gibt es zwei Interpretationen:

    • Wenn man sich auf reelle Zahlen und auf positive Wurzeln beschränkt, so hat man im letzten Schritt keine Äquivalenzumformung durchgeführt, und Information „hinzugefügt“, die in der ursprünglichen Gleichung nicht vorhanden war. Die positive Wurzel zu nehmen bedeutet, sich auf den oberen Halbkreis zu beschränken (Information, also Bedingungen hinzufügen, bewirkt, dass die Lösungsmenge verkleinert wird).
    • Wenn man stattdessen unter alle Lösungen berücksichtigt

    (d.h. im Reellen die positive und die negative Quadratwurzel, was man häufig als schreibt), so hat man keine Information dazugetan, aber auch nicht nach einer Funktion aufgelöst (sondern nur, wie man manchmal sagt, nach einer „mehrwertigen Funktion“)

    Beide Standpunkte haben etwas für sich. Dass man für einen Teil des geometrischen Objektes (dem oberen Halbbogen) versucht, eine einfache Beschreibung als Graph zu finden, kehrt im Satz über implizite Funktionen, im Potenzreihenansatz, in Parametrisierungen und in der lokalen Theorie wieder.



    Gleichungen der Form



    Eine Kreisgleichung kann man als eine Gleichung der Form

    auffassen, wobei ein Polynom in der einen Variablen bezeichnet (im Fall eines Kreises ist ). Das ist kein Graph, aber die „Wurzel“ eines Graphen. Betrachten wir generell eine solche Situation, wo auch komplizierter sein darf. Das Nullstellengebilde repräsentiert hier die Quadratwurzel . Wenn man sich für einen beliebigen Wert vorgibt, so gibt es (im Reellen) drei Möglichkeiten für zugehörige Lösungen:

    • Wenn negativ ist, so gibt es keine Lösung.
    • Wenn
    ist, so gibt es genau die Lösung .
    • Wenn positiv ist, so gibt es die beiden Lösungen
    .

    Das gibt auch einen Ansatz, wie das reelle Bild aussieht: Für jedes berechnet man und markiert bei (falls der Radikand nichtnegativ ist) einen Punkt.

    Im Komplexen sind nur die Fälle oder zu unterscheiden. Wenn selbst nur den Grad zwei besitzt, so handelt es sich um einen Kegelschnitt, die schon in der Antike betrachtet wurden(siehe die siebte Vorlesung).

    Mit dem Fall, dass ein kubisches (reelles) Polynom ist (also den Grad drei besitzt), hat sich Isaac Newton intensiv beschäftigt. Dieses Beispielmaterial ist schon sehr reichhaltig.


    Betrachten wir den Fall , also das durch

    beschriebene Gebilde. Dieses Gebilde nennt man die Neilsche Parabel. Hier tritt ein neues Phänomen auf, nämlich, dass der Nullpunkt anders ist als alle anderen Punkte. Man spricht von einer Singularität; im Gegensatz dazu nennt man die anderen Punkte glatt oder nicht-singulär. Eine genaue Definition zu geben ist Teil dieses Kurses, als erste ungenaue Formulierung kann man sagen, dass eine Kurve in einem glatten Punkt lokal und in geeigneten Koordinaten so aussieht wie der (gedrehte) Graph einer differenzierbaren Funktion. Die Singularität in der Neilschen Parabel nennt man auch eine Spitze (oder eine Kuspe, was einfach Spitze bedeutet). Dagegen ist die Singularität im Bild 8 ein Kreuzungspunkt oder Doppelpunkt.

    Im Bild 7 vom Anfang und oben sieht man ebenfalls Nullstellengebilde der Form , wobei ein Polynom vom Grad drei ist. Wie sieht aus, damit sich solch eine Kurve ergibt? Die zuletzt genannten Beispiele zeigen auch, dass es von der genauen Gestalt von abhängt, ob die Kurve eine Singularität besitzt oder nicht.

    Bleiben wir noch bei der Neilschen Parabel . Wenn irgendeine reelle oder komplexe Zahl ist, so liegt der Punkt mit den Koordinaten stets auf der Neilschen Parabel, da ja ist. Man kann auch umgekehrt zeigen (siehe Aufgabe 1.4), dass jeder Punkt der Neilschen Parabel eine solche Gestalt besitzt, dass es also zu mit ein (und zwar genau ein) mit gibt. Man sagt, dass die Abbildung

    eine (bijektive polynomiale) Parametrisierung der Neilschen Parabel ist. Es ist eine nicht-triviale Frage, welche algebraischen Kurven eine polynomiale Parametrisierung besitzen. Eine Kurve der Form , die glatt ist und wo den Grad drei hat, besitzt keine solche Parametrisierung. In der elementaren Zahlentheorie lernt man, dass alle pythagoreischen Tripel auf eine einfache übersichtliche Gestalt gebracht werden können, siehe Satz 10.6 (Zahlentheorie (Osnabrück 2016-2017)). Äquivalent dazu ist eine (rationale) Parametrisierung des rationalen Einheitskreises, siehe Satz 10.4 (Zahlentheorie (Osnabrück 2016-2017)). Dies werden wir in größerer Allgemeinheit in Satz 7.6 behandeln.

    Wir kommen zur ersten allgemeinen Definition.


    Es sei ein Körper. Eine ebene affin-algebraische Kurve über ist das Nullstellengebilde eines nicht-konstanten Polynoms in zwei Variablen, also

    D.h. es ist

    Als Lieblingspolynome in den zwei Variablen und wurden im Kurs angeführt:

    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • ,
    • .

    Das zugehörige Nullstellengebilde ist unterschiedlich schwierig zu erfassen. Es ist einfach die -Achse, und das gilt auch für . Die Nullstellenmenge zu ist einfach die Lösungsmenge dieser linearen Gleichung, also eine affine Gerade. Nach der binomischen Formel ist und die Nullstellenmenge ist einfach die Nebendiagonale. Die reelle Nullstellenmenge zu ist allein der Nullpunkt . Wegen

    ist die zugehörige Nullstellenmenge die Vereinigung aus der Diagonalen und der Nebendiagonalen. Die folgende Gleichung

    kann man nach

    auflösen, die Nullstellenmenge ist also der Graph eines Polynoms vom Grad . Polynome vom Grad zwei wie werden wir als Kegelschnitte in der sechsten Vorlesung erfassen. Das Polynom definiert ähnlich wie die Neilsche Parabel eine sogenannte monomiale Kurve, diese werden wir in der 18ten Vorlesung behandeln. Das Polynom kommt auch irgendwann dran.

    Wir beweisen ein Lemma, aus dem direkt folgt, dass die oben zuletzt abgebildeten Kurven nicht algebraisch sind.



    Es sei eine ebene affin-algebraische Kurve und sei eine Gerade in . Dann ist der Durchschnitt die ganze Gerade, oder er besteht nur aus endlich vielen Punkten.

    Eine ebene algebraische Kurve ist nach Definition immer die Nullstelle eines Polynoms in zwei Variablen. Die Gerade sei durch die Gleichung gegeben. Ohne Einschränkung sei , dann kann man nach auflösen und erhält die Geradengleichung . Ein Schnittpunkt muss sowohl als auch die Geradengleichung erfüllen. Mit der Geradengleichung kann man in durch ersetzen. Dadurch wird zu einem Polynom in der einen Variablen , das wir nennen. Dann ist äquivalent dazu, dass und ist. D.h. die Schnittmenge wird durch das Polynom beschrieben. Bei ist die ganze Gerade der Schnitt. Bei gibt es nach Satz Anhang 1.5 nur endlich viele Nullstellen.


    In den obigen Beispielen gibt es aber Geraden, die die Kurven in unendlich vielen Punkten schneiden – deshalb sind sie nicht algebraisch.



    Polynomringe

    Nach diesen einführenden Beispielen fixieren wir ein paar Begrifflichkeiten, die wahrscheinlich schon bekannt sind.


    Der Polynomring über einem kommutativen Ring besteht aus allen Polynomen

    mit ,

    und mit komponentenweiser Addition und einer Multiplikation, die durch distributive Fortsetzung der Regel

    definiert ist.

    Darauf aufbauend kann man auch Polynomringe in mehreren Variablen definieren. Man setzt

    etc. Ein Polynom in Variablen hat die Gestalt

    Es wird dabei summiert über eine endliche Familie von Exponententupel . Die Ausdrücke nennt man auch Monome. Ein Polynom schreibt man zumeist abkürzend als . Das Produkt von zwei Monomen bedeutet Addition der Exponententupel, also

    Für uns, im Kontext der algebraischen Geometrie, ist hauptsächlich der Fall interessant, wo der Grundring ein Körper ist. In der algebraischen Geometrie interessiert man sich für die Gestalt von Nullstellengebilden von Polynomen in mehreren Variablen. Wir werden später sehen, dass die Beziehung zwischen algebraischen und geometrischen Eigenschaften besonders stark ist, wenn der Grundkörper algebraisch abgeschlossen ist.


    Ein Körper heißt algebraisch abgeschlossen, wenn jedes nichtkonstante Polynom eine Nullstelle in besitzt.


    Der sogenannte Fundamentalsatz der Algebra wurde erstmals von Gauss bewiesen.



    Der Körper der komplexen Zahlen ist algebraisch abgeschlossen.

    Wir werden den Satz hier nicht beweisen. Die Beweise dafür benutzen topologische oder analytische Mittel.



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