Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II/Vorlesung 42

Wir wenden uns nun der Differentialrechnung zu für Abbildungen, wo der Definitionsbereich höherdimensional ist. Dazu seien zwei reelle (oder komplexe) endlichdimensionale Vektorräume und gegeben. Ferner sei eine offene Teilmenge und

eine Abbildung. Diese Abbildung wollen wir „differenzieren“. Anders als in den bisher behandelten Situationen gibt es bei einem höherdimensionalen Definitionsbereich mehrere nicht äquivalente Konzepte von Differenzierbarkeit. Wir werden nacheinander die Richtungsableitung, partielle Ableitungen und das totale Differential sowie ihre Beziehungen untereinander diskutieren. Wir werden durchgehend voraussetzen, dass die Vektorräume euklidisch sind. Bei komplexen Vektorräumen soll der zugrunde liegende reelle Vektorraum mit einem (reellen) Skalarprodukt und damit mit einer euklidischen Metrik versehen sein.

Es ist erstmal keine Einschränkung, wenn man sich auf reelle Vektorräume beschränkt und überdies den Zielraum als ansetzt. Als Definitionsmenge kann man sich zunächst auf beschränken, und sich vorstellen, dass die Abbildung jedem Grundpunkt einen Höhepunkt zuordnet, so dass die Abbildung insgesamt ein Gebirge über einer Grundfläche beschreibt.



Richtungsableitung

Wir stellen uns vor, wir sind an einem Ort im Gebirge und entschließen uns, in eine bestimmte Richtung, beispielsweise nach Nordwest zu gehen, egal was kommen mag. Damit machen wir sämtliche Steigungen und Abhänge mit, die das Gebirge uns in dieser vorgegebenen Richtung bietet. Dabei lernen wir nur den Höhenverlauf des Gebirges entlang dieses linearen Ausschnitts kennen. Durch die gewählte Richtung bewegen wir uns auf dem Graphen zu einer Funktion in einer einzigen Variablen, nämlich einer Variablen der Grundgeraden. Dies ist die Grundidee der Richtungsableitung.


Es seien und endlichdimensionale normierte Vektorräume, eine offene Teilmenge, und eine Abbildung. Weiter sei ein Punkt und ein fixierter Vektor. Dann heißt differenzierbar in in Richtung , falls der Grenzwert

existiert. In diesem Fall heißt dieser Grenzwert die Ableitung von in in Richtung . Er wird mit

bezeichnet.

Die Existenz von hängt nur von der Abbildung , , ab (wobei das Intervall (im reellen Fall) bzw. der offene Ball (im komplexen Fall) so gewählt ist, dass auch impliziert. D.h. dass gilt). Die Richtungsableitung in einem Punkt und in eine Richtung ist selbst ein Vektor in . Bei ist die Richtungsableitung eine reelle oder komplexe Zahl.


Wir betrachten die Abbildung

in einem Punkt in Richtung . Der Differenzenquotient ist

Für gehen die beiden hinteren Summanden gegen , sodass sich insgesamt

ergibt.

Im Punkt ergibt sich in Richtung beispielsweise die Richtungsableitung



Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume und sei

eine lineare Abbildung. Dann existiert die Richtungsableitung in jedem Punkt und in jede Richtung , und zwar ist

insbesondere ist also die Richtungsableitung unabhängig vom Punkt. Dies folgt direkt durch Betrachten des Differenzenquotienten; es ist nämlich

Daher ist auch der Limes für gleich .




Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, sei offen, ein Punkt, ein Vektor und seien

Abbildungen, die im Punkt in Richtung differenzierbar seien. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Summe ist ebenfalls differenzierbar in Richtung mit
  2. Das Produkt mit ist ebenfalls differenzierbar in Richtung mit
  3. Die Funktion ist auch in Richtung  mit differenzierbar und es gilt

Die Eigenschaften (1) und (2) ergeben sich aus den entsprechenden Eigenschaften für Limiten von Abbildungen, siehe Lemma 23.6. Für die Eigenschaft (3) siehe Aufgabe 42.13.


Im Rahmen der Theorie des totalen Differentials wird die Frage beantwortet, wie sich die Richtungsableitungen zu verschiedenen Richtungen zueinander verhalten. Wenn im Werteraum eine Basis gegeben ist, so kann man die Richtungsableitung komponentenweise bestimmen.



Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, sei offen, ein Punkt und sei ein Vektor. Es sei

eine Abbildung. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Es sei der Produktraum

    aus endlichdimensionalen Vektorräumen . Dann ist genau dann in differenzierbar in Richtung , wenn sämtliche Komponentenabbildungen

    in in Richtung differenzierbar sind. In diesem Fall gilt

  2. Es sei eine Basis von mit den Koordinaten

    Dann ist in in Richtung genau dann differenzierbar, wenn sämtliche Komponentenfunktionen

    in in Richtung differenzierbar sind. In diesem Fall ist

Die erste Aussage folgt aus der zweiten, wenn man für die einzelnen Vektorräume Basen einführt (umgekehrt ist auch der zweite Teil ein Spezialfall des ersten). Die zweite Aussage folgt aus Aufgabe 40.8 oder aus Lemma 40.4 in Verbindung mit Fakt *****.

Aufgrund von diesem Lemma muss man vor allem die Richtungssableitung für den Fall verstehen, wo der Wertebereich gleich ist.

Das folgende einfache Beispiel zeigt, dass durchaus alle Richtungsableitungen existieren können, die Abbildung selbst aber noch nicht einmal stetig sein muss.


Wir betrachten die Funktion mit

Für einen Vektor und einen reellen Parameter erhalten wir auf der Geraden die Funktion

Für ist der Nenner stets positiv und die Funktion ist stetig mit dem Wert bei , und als rationale Funktion in differenzierbar. Für ist die Funktion konstant und damit ebenfalls differenzierbar. Also existieren in alle Richtungsableitungen zu . Die Funktion ist allerdings nicht stetig: Für die Folge (die gegen konvergiert) gilt

aber .


Im Allgemeinen möchte man nicht nur in einem einzigen Punkt ableiten können, sondern in jedem Punkt, was durch die folgende naheliegende Definition präzisiert wird.


Seien und euklidische Vektorräume, sei eine offene Teilmenge, sei eine Abbildung und ein fixierter Vektor. Dann heißt differenzierbar in Richtung , falls in jedem Punkt in Richtung differenzierbar ist. In diesem Fall heißt die Abbildung

die Richtungsableitung von in Richtung .

Die Richtungsableitung zu einem fixierten Vektor ist also vom selben Typ wie die Ausgangsabbildung.



Polynomiale Funktionen

Wir haben schon Polynome in ein und in zwei Variablen verwendet. Die folgende Definition verwendet Multiindex-Schreibweise, um Polynomfunktionen in beliebig (endlich) vielen Variablen einzuführen. Dabei steht ein Index für ein Tupel

und für Variablen verwendet man die Schreibweise


Eine Funktion

die man als eine Summe der Form

mit schreiben kann, wobei nur endlich viele sind, heißt polynomiale Funktion.

Offenbar sind die Summe und die Produkte von polynomialen Funktionen wieder polynomial. Dies gilt auch, wenn man Polynome in andere Polynome einsetzt.


Wir betrachten die polynomiale Funktion

Die Richtungsableitung in Richtung in einem beliebigen Punkt

ergibt sich durch Betrachten des Differenzenquotienten, also

Dabei ist eine polynomiale Funktion in (die und die sind fixierte Zahlen). Der Limes von geht für gegen . Daher ist


In den Aufgaben werden wir sehen, dass die Richtungsableitung zu einer polynomialen Funktion in jede Richtung existiert und selbst wieder polynomial ist. Dies wird sich auch einfach im Rahmen des totalen Differentials ergeben.


<< | Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)