Kurs:Vorkurs Mathematik (Osnabrück 2021)/Vorlesung 4
- Zifferndarstellung reeller Zahlen
Die Zifferndarstellung (oder Ziffernentwicklung) einer natürlichen Zahl haben wir bereits besprochen, für eine negative ganze Zahl nimmt man einfach die zugehörige positive Zahl und schreibt ein Minuszeichen davor. Die zu einer Ziffernfolge gehörende Zahl gewinnt man, indem man aus der Ziffernfolge eine Vorschrift herausliest, was zu addieren, was zu multiplizieren, und was zu potenzieren ist (wobei Potenzieren eine bestimmte Form der Multiplikation ist). Beispielsweise ist die Ziffernfolge
zu verstehen als
Man muss also lediglich die Ziffern und die Zahl sowie Addition und Multiplikation kennen, um die Ziffernfolge richtig zu interpretieren. Die Zifferndarstellung beruht also auf einer Kodierung von Rechenvorschriften. Die Operationen Addition und Multiplikation sollte man dabei als fundamentaler für die Zahlen ansehen als das Ziffernsystem, das lediglich eine geschickte Benennung darstellt.
Für reelle Zahlen gibt es ebenfalls eine solche Ziffernentwicklung, wobei diese allerdings im Allgemeinen mit unendlich vielen Ziffern beschrieben werden. Die Bedeutung dieser Ziffernentwicklung ergibt sich im Kontext von Folgen und Reihen in Zusammenhang mit der sogenannten Vollständigkeit der reellen Zahlen. Es ist nicht möglich, eine Zifferndarstellung als reelle Zahl allein mittels Addition und Multiplikation zu interpretieren.
Wir betrachten zunächst eine abbrechende Ziffernentwicklung, wobei wir uns erstmal auf das Dezimalsystem beschränken. Es sei die Zahl
gegeben. Sie ist zu interpretieren als die Zahl
Hier schreiben wir statt . Diese Zahl kann man auch direkt als Bruch
auffassen, es liegt also insbesondere eine rationale Zahl vor, und zwar eine mit einer Zehnerpotenz im Nenner. Um also eine abbrechende Ziffernfolge richtig als Zahl zu interpretieren, muss man addieren, multiplizieren und auch durch Zehnerpotenzen teilen können.
Welche Bedeutung hat nun eine unendliche Ziffernentwicklung, wie
Zunächst mal gar keine, da ja gar nicht klar ist, was mit den Punkten zum Schluss gemeint ist, wie die Zifferndarstellung weiter geht. Eine solche Schreibweise ergibt allenfalls dann Sinn, wenn in den angeführten Ziffern ein Muster erkennbar ist, dessen Fortführung ins Unendliche dann die vollständige Ziffernfolge festlegt, wie bei
oder bei
Man kann ein Bildungsgesetz für die unendlich vielen Ziffern auf jede beliebige Weise angeben, solange nur jede Ziffer einen eindeutigen Wert bekommt.
Es sei jetzt eine irgendwie festgelegte unendliche Ziffernfolge gegeben. Welche Zahl verbirgt sich dahinter? Bei den abbrechenden Zahlen haben wir schon verwendet, dass die -te Nachkommastelle sich auf bezieht. Nach dem oben angeführten Gesetz, wie eine Ziffernfolge als Zahl zu interpretieren ist, sollte eine Ziffernfolge
als
zu interpretieren sein. Dies ist eine „unendliche Summe“, und sowas ist nicht definiert. Ausdrücke wie
oder
lassen erkennen, dass man auch keine sinnvolle Interpretation für beliebige unendliche Summen erwarten darf. Allerdings ist es möglich, und zwar unter sehr restriktiven Voraussetzungen, gewisse unendliche Summen in sinnvoller Weise als reelle Zahlen zu interpretieren. Dies benötigt einige Vorbereitungen, doch dadurch werden letztlich auch die unendlichen Dezimalentwicklungen gerechtfertigt.
Mit der Interpretation der -ten Nachkommastelle als (bzw. ), die ja mit wachsendem kleiner werden, hängt zusammen, dass zu einer unendlichen Ziffernfolge die abgeschnittene Ziffernfolge bis zur -ten Nachkommastelle eine rationale Approximation der Zahl liefert, und dass mit wachsendem die Approximationen immer besser werden. Für die Ziffernfolge
sind also
zunehmend bessere Approximationen (wenn eine dazukommt, kann man sich darüber streiten). All diese sind rationale Zahlen, die zunehmend genauere Information über die durch die unendliche Ziffernfolge anvisierte Zahl beinhalten. Wir können also Ziffernfolgen als eine Folge von rationalen Approximationen auffassen (aufgrund von Lemma 3.5 (3) wissen wir bereits, dass man jede reelle Zahl durch rationale Zahlen approximieren kann). Eine fundamentale Beobachtung ist nun, dass Ziffernfolgen im Allgemeinen nicht die schnellste oder die beste Approximation einer Zahl geben, sondern dass häufig anders gelagerte Folgen besser sind. Deshalb werden die Approximationseigenschaften der reellen Zahlen über die fundamentalen Begriffe Folge und Konvergenz erfasst.
- Reelle Zahlenfolgen
Wir betrachten nun ein Beispiel, das ebenfalls zu Approximationen führt, aber nichts mit der Dezimalbruchentwicklung zu tun hat, nämlich Quadratwurzeln aus natürlichen (oder reellen) Zahlen. Die Quadratwurzel zu ist diejenige (eindeutig bestimmte) reelle nichtnegative Zahl, deren Quadrat ergibt. Innerhalb der rationalen Zahlen gibt es im Allgemeinen keine Wurzeln, so dass dies ein deutlicher Hinweis ist, dass sich viele Rechenoperationen nicht innerhalb der rationalen Zahlen durchführen lassen. Siehe Aufgabe 3.10 und Aufgabe 3.14.
Wir wollen die Quadratwurzel einer natürlichen Zahl „berechnen“, sagen wir von . Eine solche Zahl mit der Eigenschaft gibt es nicht innerhalb der rationalen Zahlen, wie aus der eindeutigen Primfaktorzerlegung folgt. Wenn ein solches Element ist, so hat auch diese Eigenschaft. Mehr als zwei Lösungen kann es aber nach Aufgabe 3.12 nicht geben, sodass wir nur nach der positiven Lösung suchen müssen.
Obwohl es innerhalb der rationalen Zahlen keine Lösung für die Gleichung gibt, so gibt es doch beliebig gute Approximationen innerhalb der rationalen Zahlen dafür. Beliebig gut heißt dabei, dass der Fehler (oder die Abweichung) unter jede positive Schranke gedrückt werden kann. Das klassische Verfahren, um eine Quadratwurzel beliebig gut anzunähern, ist das Heron-Verfahren, das man auch babylonisches Wurzelziehen nennt. Dies ist ein iteratives Verfahren, d.h., die nächste Approximation wird aus den vorausgehenden Approximationen berechnet. Beginnen wir mit als erster Näherung. Wegen ist zu groß, d.h. es ist . Aus (mit positiv) folgt zunächst und daraus , d.h. . Man hat also die Abschätzungen
wobei links eine rationale Zahl steht, wenn rechts eine rationale Zahl steht. Eine solche Abschätzung vermittelt offenbar eine quantitative Vorstellung darüber, wo liegt. Die Differenz ist ein Maß für die Güte der Approximation.
Beim Startwert ergibt sich, dass die Quadratwurzel von zwischen und liegt. Man nimmt nun das arithmetische Mittel der beiden Intervallgrenzen, also
Wegen ist dieser Wert wieder zu groß und daher liegt im Intervall . Von diesen Intervallgrenzen nimmt man erneut das arithmetische Mittel und setzt
als nächste Approximation. So fortfahrend erhält man eine immer besser werdende rationale Approximation von .
Allgemein ergibt sich das folgende Heron-Verfahren.
Beim Heron-Verfahren zur näherungsweisen Berechnung von einer positiven Zahl geht man iterativ wie folgt vor. Man startet mit einem beliebigen positiven Startwert und berechnet davon das arithmetische Mittel aus und . Dieses Mittel nennt man . Es gilt
D.h. dass mindestens so groß wie ist. Auf wendet man iterativ das gleiche Verfahren an und erhält so usw. Die rekursive Definition von lautet also
Nach Konstruktion weiß man, dass in jedem Intervall (für ) liegt, da aus direkt folgt. Bei jedem Schritt gilt
d.h. das Nachfolgerintervall liegt innerhalb des Vorgängerintervalls. Dabei wird bei jedem Schritt die Intervalllänge mindestens halbiert.
Das eben beschriebene Verfahren liefert also zu jeder natürlichen Zahl eine reelle Zahl, die eine durch eine gewisse algebraische Eigenschaft charakterisierte Zahl beliebig gut approximiert. Bei vielen technischen Anwendungen genügt es, gewisse Zahlen nur hinreichend genau zu kennen, wobei allerdings die benötigte Güte der Approximation von der technischen Zielsetzung abhängt. Es gibt im Allgemeinen keine Güte, die für jede vorstellbare Anwendung ausreicht, so dass es wichtig ist zu wissen, wie man eine gute Approximation durch eine bessere Approximation ersetzen kann und wie viele Schritte man machen muss, um eine gewünschte Approximation zu erreichen. Dies führt zu den Begriffen Folge und Konvergenz.
Eine reelle Folge ist eine Abbildung
Bei einer Folge wird also jeder natürlichen Zahl eine eindeutige reelle Zahl zugeordnet. Eine Folge wird zumeist als , oder einfach nur kurz als geschrieben. Manchmal sind Folgen nicht für alle natürlichen Zahlen definiert, sondern nur für alle natürlichen Zahlen . Alle Begriffe und Aussagen lassen sich dann sinngemäß auch auf diese Situation übertragen. Grundsätzlich gibt es Folgen in jeder Menge, für die meisten Eigenschaften, für die man sich im Kontext von Folgen interessiert, braucht man aber eine zusätzliche „topologische Struktur“, wie sie in existiert. Dies gilt insbesondere für den folgenden Begriff.
Es sei eine reelle Folge und es sei . Man sagt, dass die Folge gegen konvergiert, wenn folgende Eigenschaft erfüllt ist.
Mathematische Begriffe besitzen eine gewisse Komplexität, die häufig die Komplexität der natürlichen Sprache übertrifft. Die Komplexität zeigt sich in der Verschachtelungstiefe von Quantoren, in einer verzweigten logischen Struktur, in der inneren Bezogenheit, die nur mit Hilfe von Variablen ausgedrückt werden kann. Wichtig ist, dass unabhängig von der Komplexität die Präzision bewahrt wird. Diese Komplexität muss man akzeptieren.
Die Komplexität zeigt sich in einem gewissen Sinne auch darin, dass in Begriffen auf andere Begriffe Bezug genommen wird. Wenn man diese verwendeten Begriffe in einer Definition ausschreiben würde, würde sich schnell eine Komplexität ergeben, die für einen Menschen nicht mehr erfassbar ist. Es ist vielmehr so, dass man eine übergroße Komplexität durch die Einführung von geeigneten Zwischenbegriffen vermeidet. Dies heißt wiederum, dass man sich eine Definition nur dann sinnvoll aneignen kann, wenn man mit den in ihr verwendeten Begriffen vertraut ist.
Auch Begriffe in anderen Wissenschaften und Lebensbereichen verfügen über eine vergleichbare Komplexität (aber selten die gleiche Präzision), beispielsweise Jura mit ihren Definitionen (Was ist ein Mörder?) oder die Abseitsregel im Fußball.
Typische Beispiele:
Konvergenz von reellen Folgen.
Vergleiche hierzu auch die Pseudokonvergenzbegriffe, die inhaltlich nicht relevant sind, aber die gleiche Komplexität haben und woran man gut erkennen kann, wie wichtig die Reihenfolge der Quantoren ist, welchen Unterschied gegenüber ausmacht, ...
Zu jedem positiven , , gibt es ein derart, dass für alle die Abschätzung
gilt. In diesem Fall heißt der Grenzwert oder der Limes der Folge. Dafür schreibt man auch
Wenn die Folge einen Grenzwert besitzt, so sagt man auch, dass sie konvergiert (ohne Bezug auf einen Grenzwert.), andernfalls, dass sie divergiert.
Man sollte sich dabei das vorgegebene als eine kleine, aber positive Zahl vorstellen, die eine gewünschte Zielgenauigkeit (oder erlaubten Fehler) ausdrückt. Die natürliche Zahl ist dann die Aufwandszahl, die beschreibt, wie weit man gehen muss, um die gewünschte Zielgenauigkeit zu erreichen, und zwar so zu erreichen, dass alle ab folgenden Glieder innerhalb dieser Zielgenauigkeit bleiben. Konvergenz bedeutet demnach, dass man jede gewünschte Genauigkeit bei hinreichend großem Aufwand auch erreichen kann. Je kleiner der Fehler, also je besser die Approximation sein soll, desto höher ist im Allgemeinen der Aufwand. Statt mit beliebigen positiven reellen Zahlen kann man auch mit den Stammbrüchen, also den rationalen Zahlen , , arbeiten, siehe Aufgabe 4.8.
Zu einem und einer reellen Zahl nennt man das Intervall auch die -Umgebung von . Eine Folge, die gegen konvergiert, heißt Nullfolge.
Mathematische Begriffe sind dazu da, komplexe Sachverhalte präzise erfassen zu können. Wenn man sich einem solchen Begriff annähert, betrachtet man als „allererste“ Beispiele häufig Situationen, die so einfach sind, dass sich darin die Komplexität des Begriffes noch gar nicht zeigen kann. So ist die leere Menge ein Beispiel für eine Menge, der Nullraum ein Beispiel für einen Vektorraum, eine Primzahl für sich genommen ist ein Beispiel für eine Primfaktorzerlegung. Der Funktionsbegriff ist dazu da, Abhängigkeiten, Schwankungen, Wachstum zu erfassen, aber auch die konstante Funktion ist eine Funktion. Solche unterkomplexen Beispiele vermitteln kein typisches Bild für das Konzept und sind schnell abgehandelt.
ist stets konvergent mit dem Grenzwert . Dies folgt direkt daraus, dass man für jedes als Aufwandszahl nehmen kann. Es ist ja
für alle .
Die Folge
ist konvergent mit dem Grenzwert . Es sei dazu ein beliebiges positives vorgegeben. Aufgrund des Archimedes Axioms gibt es ein mit . Insgesamt gilt damit für alle die Abschätzung
Eine reelle Folge
besitzt maximal einen Grenzwert.
Nehmen wir an, dass es zwei verschiedene Grenzwerte , , gibt. Dann ist . Wir betrachten . Wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit
und wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit
Beide Bedingungen gelten dann gleichermaßen für . Es sei mindestens so groß wie dieses Maximum. Dann ergibt sich aufgrund der Dreiecksungleichung der Widerspruch
- Rechenregeln für Folgen
Wir erwähnen wichtige Rechenregeln, mit denen man aus schon bekannten konvergenten Folgen auf das Konvergenzverhalten von neuen Folgen schließen kann.
Eine für den Aufbau und die Anwendbarkeit der Mathematik wichtige Unterscheidung ist die zwischen Begriff und Kriterium. Ein mathematischer Begriff wird in der Definition fixiert und soll prägnant die Sache auf den Punkt bringen, derart, dass er prinzipiell in den unterschiedlichsten Kontexten anwendbar ist. Diese prinzipielle Anwendbarkeit führt aber in vielen konkreten Situationen zu einem unangemessenen Aufwand.
Deshalb werden die Begriffe durch vergleichsweise einfach zu überprüfende Kriterien ergänzt, mit denen man in einer Vielzahl von spezifischen Situationen effektiv entscheiden kann, ob der Begriff zutrifft oder nicht zutrifft. Dabei wird häufig Bezug genommen auf einfachere Situationen, in denen der Begriff bereits etabliert ist und die die gegebene Situation mitkonstituieren. Die Anwendbarkeit eines Kriteriums erfordert häufig zu erkennen, dass die Situation in einer bestimmten Weise aufgebaut ist.
Man unterscheidet zwischen hinreichenden Kriterien und notwendigen Kriterien (oder hinreichende Bedingung und notwendige Bedingung).
Im rechnerischen Kontext spricht man auch von einem Kalkül oder, wenn das Kriterium sicher zu einer Entscheidung führt, von einem Algorithmus.
Die Stärke der Begrifflichkeit zeigt sich aber auch darin, dass man damit die Gültigkeit von Kriterien nachweisen kann.
Typische Beispiele:
Das Quetschkrterium für Folgen.
Rechenregeln für konvergente Folgen, insbesondere Aufgaben vom Typ Aufgabe 4.20.
Regeln für stetige Funktionen.
Ableitungsregeln.
Es seien und konvergente Folgen. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die Folge ist konvergent und es gilt
- Die Folge ist konvergent und es gilt
- Für
gilt
- Es sei
und
für alle
.
Dann ist ebenfalls konvergent mit
- Es sei
und
für alle
.
Dann ist ebenfalls konvergent mit
(1). Es seien bzw. die Grenzwerte der beiden Folgen. Sei vorgegeben. Wegen der Konvergenz der ersten Folge gibt es zu
ein derart, dass für alle die Abschätzung
gilt. Ebenso gibt es wegen der Konvergenz der zweiten Folge zu ein derart, dass für alle die Abschätzung
gilt. Sei
Dann gilt für alle (unter Verwendung der Dreiecksungleichung) die Abschätzung
(2). Sei vorgegeben. Die konvergente Folge ist nach Lemma 7.10 (Mathematik für Anwender (Osnabrück 2023-2024)) insbesondere beschränkt und daher existiert ein mit für alle . Sei und . Wir setzen . Aufgrund der Konvergenz gibt es natürliche Zahlen und mit
Diese Abschätzungen gelten dann auch für alle . Für diese Zahlen gilt daher
Für die anderen Teile siehe Aufgabe 4.17, Aufgabe 4.18 und Aufgabe 4.19.
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