Kurs:Vorkurs Mathematik (Osnabrück 2021)/Vorlesung 5
- Cauchy-Folgen
Ein Problem des Konvergenzbegriffes ist, dass zur Formulierung der Grenzwert verwendet wird, den man unter Umständen noch gar nicht kennt. Wenn man beispielsweise die durch das babylonische Wurzelziehen konstruierte Folge (sagen wir zur Berechnung von ) mit einem rationalen Startwert betrachtet, so ist dies eine Folge aus rationalen Zahlen. Wenn wir diese Folge in betrachten, wo existiert, so ist die Folge konvergent. Innerhalb der rationalen Zahlen ist sie aber definitiv nicht konvergent. Es ist wünschenswert, allein innerhalb der rationalen Zahlen den Sachverhalt formulieren zu können, dass die Folgenglieder beliebig nahe zusammenrücken, auch wenn man nicht sagen kann, dass die Folgenglieder einem Grenzwert beliebig nahe zustreben. Dazu dient der Begriff der Cauchy-Folge.
Eine reelle Folge heißt Cauchy-Folge, wenn folgende Bedingung erfüllt ist.
Gelegentlich sind verschiedene mathematische Konzepte ähnlich aufgebaut und unterscheiden sich auf den ersten Blick nur in Details. Wenn sich zwei Sachen ähnlich anhören, so bedeutet dies, dass man besonders auf den präzisen Unterschied achten muss.
Typische Beispiele:
Konvergenz einer reellen Folge versus Cauchy-Folge.
Stetig versus gleichmäßig stetig.
Gruppenhomomorphismus versus lineare Abbildung.
Injektiv, surjektiv, bijektiv.
Isomorphismus, Automorphismus, Homomorphismus, Homöomorphismus, Endomorphismus, Epimorphismus.
Stetig, differenzierbar, stetig differenzierbar.
Zu jedem gibt es ein derart, dass für alle die Beziehung
gilt.
Jede konvergente Folge
ist eine Cauchy-Folge.
Es sei eine konvergente Folge mit Grenzwert . Sei vorgegeben. Wir wenden die Konvergenzeigenschaft auf an. Daher gibt es ein mit
Für beliebige gilt dann aufgrund der Dreiecksungleichung
- Die Vollständigkeit der reellen Zahlen
Die reellen Zahlen sind vollständig, d.h. jede Cauchy-Folge in konvergiert.
Damit haben wir alle Axiome der reellen Zahlen zusammengetragen: die algebraischen Axiome, die man auch die Körperaxiome nennt, die Anordnungsaxiome und das Vollständigkeitsaxiom. Diese Eigenschaften legen die reellen Zahlen eindeutig fest, d.h. wenn es zwei Modelle und gibt, die beide für sich genommen diese Axiome erfüllen, so kann man eine bijektive Abbildung von nach angeben, die alle mathematischen Strukturen erhält (sowas nennt man einen „Isomorphismus“).
Die Existenz der reellen Zahlen ist nicht trivial. Vom naiven Standpunkt her kann man, und das haben wir bisher getan und werden wir auch weiterhin tun, die Vorstellung einer „kontinuierlichen lückenfreien Zahlengerade“ zugrunde legen, und dies als Existenznachweis akzeptieren. In einer strengeren mengentheoretischen Begründung der Existenz geht man von aus und konstruiert die reellen Zahlen als die Menge der Cauchy-Folgen in mit einer geeigneten Identifizierung. siehe Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II/Vorlesung 46.
- Intervallschachtelungen
Aus der Vollständigkeit ergeben sich wichtige Resultate über die Existenz von Zahlen, nämlich in dem Sinne, dass Approximationsverfahren in der Tat reelle Zahlen liefern. Wir besprechen Intervallschachtelungen und Dezimalbruchentwicklung.
Eine Folge von abgeschlossenen Intervallen
in heißt eine Intervallschachtelung, wenn für alle ist und wenn die Folge der Intervalllängen, also
gegen konvergiert.
Es sei , , eine Intervallschachtelung in .
Dann besteht der Durchschnitt
.
Eine reelle Intervallschachtelung bestimmt also genau eine reelle Zahl.
Beweis
Wenn diese Intervalle durch
gegeben sind, so ist
Dies wird in Aufgabe 5.6 bewiesen.
- Konvergenz der Zifferndarstellung
Wir zeigen nun, wie eine Zifferenentwicklung eine Cauchy-Folge (in ) ist und wie sie über die Vollständigkeit in der Tat eine reelle Zahl darstellt.
Es sei eine Zifferndarstellung (oder Dezimalentwicklung) gegeben, wobei wir uns nur um Darstellungen der Form kümmern müssen. Es genügt zu zeigen, dass die zugehörige Folge
eine Cauchy-Folge ist. Aufgrund der Vollständigkeit von besitzt dann die Zifferndarstellung einen eindeutigen Grenzwert, und dieser ist die durch die Zifferndarstellung bestimmte Zahl. Dazu betrachten wir die Differenz (für )
wobei wir in der letzten Abschätzung verwendet haben, dass die Ziffern kleiner als sind. Nach Aufgabe 3.21 gilt für die Summe rechts die Gleichheit
Bei gegebenem haben wir also für jedes die Abschätzung
Zu einem beliebig vorgegeben finden wir zuerst ein mit
und für gilt dann
Wir besprechen nun, wie man zu einer irgendwie gegebenen reellen Zahl die Dezimalbruchentwicklung findet und zeigen, dass sie eindeutig bestimmt ist. Die Zahl kann als ein Bruch , durch eine algebraische Eigenschaft, wie bei , als das Inverse einer irgendwie gegebenen Zahl , als Ergebnis einer Verknüpfung
oder
von irgendwie gegebenen Zahlen
und ,
oder als Grenzwert einer Folge gegeben sein. In irgendeiner Weise muss die Zahl natürlich vorliegen. Der im folgenden Satz beschriebene Algorithmus zur Bestimmung der Ziffern benötigt lediglich, dass man die auftretenden Zahlen mit multiplizieren, Differenzen berechnen und mit ganzen Zahlen vergleichen kann. Für den letzten Punkt ist die folgende Überlegung hilfreich.
Für die reellen Zahlen bilden die ganzzahligen halboffenen Intervalle , , aufgrund des Archimedes-Axioms eine disjunkte Überdeckung. Jede reelle Zahl liegt also in genau einem dieser Intervalle. Deshalb ist die folgende Definition sinnvoll.
Es ist also die größte ganze Zahl, die kleiner oder gleich ist.
Zu einer reellen Zahl
erhält man eine Ziffernentwicklung (im Dezimalsystem) mit den Ziffern durch die rekursive Bestimmung
die darstellt.
Zu jeder reellen Zahl in einem halboffenen Intervall gibt es ein eindeutiges , , mit
da diese Intervalle eine disjunkte Zerlegung von bilden. Bei kann man das als finden. Das angegebene Rekursionsschema funktioniert auf diese Weise, d.h. mit ist die linke Grenze des halboffenen Teilintervalls der Länge , in dem liegt. Die Zahl gibt somit das Zehnfache des Abstands der Zahl von der linken Grenze des Teilintervalls an. Induktiv sieht man, dass eine natürliche Zahl zwischen und ist, dass ist und dass
für jedes ist. Daher ist eine Ziffernentwicklung und es liegt eine Intervallschachtelung für vor, wobei die unteren Intervallgrenzen die durch die Ziffernentwicklung gegebenen Folgenglieder sind. Die zu dieser Ziffernentwicklung nach Satz 5.6 gehörige Zahl muss nach Aufgabe 5.6 gleich sein.
Die im vorstehenden Satz formulierte Ziffernentwicklung nennt man auch die kanonische Ziffernentwicklung; sie ist in eindeutiger Weise einer reellen Zahl zugeordnet. Die Ziffernentwicklung
ist zwar eine erlaubte Ziffernentwicklung, aber keine kanonische Ziffernentwicklung. Die zugehörige reelle Zahl ist die , und deren kanonische Ziffernentwicklung ist
Das Rekursionsschema aus Satz 5.8 zur Berechnung der Ziffernentwicklung ist eine Verallgemeinerung des Divisionsalgorithmus für , mit dem man die Ziffernentwicklung einer rationalen Zahl bestimmt. Wir beschränken uns auf , die Ziffernentwicklung beginnt also mit . Zur Bestimmung der ersten Nachkommaziffer schaut man, wie oft in hineingeht, also welches ganzzahlige Vielfache von noch unterhalb von liegt. Der zugehörige Faktor (und dieser ist ) ist zwischen und und ergibt die erste Nachkommaziffer von . Dann subtrahiert man von das soeben bestimmte maximal ganzzahlige Vielfache und erhält als Differenz eine ganze Zahl zwischen und . Diese multipliziert man wieder mit und führt die gleiche Überlegung durch.
Es ist für den Lernerfolg wichtig, Übereinstimmungen, Analogien, Parallelitäten, Querverbindungen zwischen aus der Schule vertrauten Formulierungen und akademischen Formulierungen zu erkennen. Zum Erkennen der Parallelitäten gehört auch das Erkennen der spezifischen Unterschiede. Es gibt genug wirklich neue Sache, deshalb erleichtert man sich die Aneignung des Stoffes, wenn man Verbindungen zu vertrauten Sachen herstellen kann. Es liegt primär in der Verantwortung der Studierenden, diese Verbindungen herzustellen.
Die Unterschiede werden oft als so stark wahrgenommen, dass die Gemeinsamkeiten gar nicht mehr erkannt werden, was zur Frustration führt. Typische Unterschiede zeigen sich in den folgenden Punkten.
- In der Schule werden die Konzepte häufig operativ formuliert, wie findet man die Nachkommaziffern?, wie kann man die Ableitung berechnen?, während an der Universität eher der ontologische Gesichtspunkt im Vordergrund steht, was sind die Nachkommaziffern, welche Gleichungen erfüllen sie, was ist die Ableitung, welche Gesetzmäßigkeiten gelten?
- Größere Allgemeinheit im akademischen Rahmen.
- Formulierung mit Variablen und Symbolen statt die Bearbeitung von typischen Beispielen.
Für eine rationale Zahl () besitzt das Schema aus Satz 5.8 die Eigenschaft, dass selbst ein Bruch mit als Nenner ist und wobei der Rest bei Division von durch b ist. Durch Induktion nach zeigt man nämlich die Beziehung
und
siehe Aufgabe 5.19.
Eine reelle Zahl ist
genau dann eine rationale Zahl, wenn sie eine periodische Ziffernentwicklung (im Dezimalsystem) besitzt.
Es sei eine rationale Zahl, von der wir annehmen können, dass sie in liegt. Es sei
die nach Satz 5.8 zugehörige Zifferenentwicklung gemäß dem Rekursionsschema und . Es ist einerseits und andererseits sind die rationale Zahlen mit als Nenner. D.h. muss eine der Zahlen
sein. Unter den muss es also irgendwann eine Wiederholung geben, sagen wir
mit
.
Da die Zahlen und nur von abhängen, ist
,
,
u.s.w, d.h., es liegt eine Periodizität vor.
Es liege eine periodische Ziffernentwicklung für die reelle Zahl vor. Da sich die Eigenschaft, eine rationale Zahl zu sein, weder bei Multiplikation mit einer rationalen Zahl noch bei Addition mit einer rationalen Zahl ändert, können wir sofort annehmen, dass die Ziffernentwicklung die Form
besitzt. Die dadurch definierte Zahl können wir als
auffassen, wobei die Einsen an der -ten, -ten u.s.w. Stelle stehen. Wir müssen uns also nur noch um periodische Ziffernentwicklungen von dieser speziellen Art kümmern. Wir betrachten die Folge
deren Glieder approximierende abbrechende Ziffernentwicklungen von sind (wobei manche übersprungen werden). Aufgrund von Aufgabe 3.21 ist
Der Limes davon (für gegen unendlich) ist, da ja gegen konvergiert, gleich
wobei jeweils Neunen vorkommen. Diese Zahl ist also rational.
Die entsprechende Aussage gilt für die Ziffernentwicklung zu jeder Basis, nicht nur im Dezimalsystem. Eine reelle Zahl mit einer periodischen Ziffernentwicklung wird so geschrieben, dass man einen Strich über die Periode macht, also beispielsweise
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