Kurs:Analysis (Osnabrück 2021-2023)/Teil I/Vorlesung 22
Zu einer konvergenten Potenzreihe
bilden die „Teilpolynome“
polynomiale Approximationen für die Funktion im Punkt . Wir fragen uns nun umgekehrt, inwiefern man aus den höheren Ableitungen einer hinreichend oft differenzierbaren Funktion approximierende Polynome (oder eine Potenzreihe) erhalten kann. Dies ist der Inhalt der Taylor-Entwicklung.
- Taylor-Polynome
Eine konvergente Potenzreihe ist in beliebig oft differenzierbar und die Ableitungen im Punkt lassen sich aus der Potenzreihe ablesen. Es ist ja
und allgemein
Umgekehrt kann man aus den Ableitungen die Koeffizienten der Potenzreihe durch
zurückgewinnen. Dabei ist die rechte Seite unabhängig davon definiert, ob eine Potenzreihe vorliegt, so lange die Funktion nur hinreichend oft differenzierbar ist. Man gewinnt daher über die Ableitungen gute Kandidaten für polynomiale Approximationen, nämlich die Taylor-Polynome.
Es sei eine offene Teilmenge,
eine -mal differenzierbare Funktion und . Dann heißt
das Taylor-Polynom vom Grad[1] zu im Entwicklungspunkt .
Die Funktion und ihr -tes Taylor-Polynom stimmen im Punkt bis einschließlich zur -ten Ableitung überein.
Wir möchten für die Funktion
das Taylor-Polynom der Ordnung im Entwicklungspunkt bestimmen. Es ist
Unter Verwendung von
ist somit
Das Taylor-Polynom vom Grad ist daher
- Die Taylor-Formel
Die folgende Taylor-Formel (mit Lagrangeschem Restglied) macht eine Aussage über die Güte der Approximation einer Funktion durch ihre Taylor-Polynome. Wir beschränken uns auf die reelle Situation. Bei handelt es sich einfach um den Mittelwertsatz.
eine -mal differenzierbare Funktion und ein innerer Punkt des Intervalls.
Dann gibt es zu jedem Punkt ein mit
Dabei kann zwischen und gewählt werden.
Es sei fixiert. In Anlehnung an die zu beweisende Aussage betrachten wir zu den Ausdruck
den wir als Funktion in auffassen. Es ist und wir wählen derart, dass ist, was möglich ist. Die Funktion
ist auf dem Teilintervall (bzw. , falls ist.) differenzierbar (nach ) und besitzt an den beiden Intervallgrenzen den Wert . Nach dem Satz von Rolle gibt es ein mit .
Aufgrund der Produktregel und der Kettenregel ist (Ableitung nach )
Daher heben sich in der Ableitung von die meisten Terme weg und es ergibt sich
Aus der Gleichung
folgt . Wenn wir dies und in die Anfangsgleichung einsetzen und ausnutzen, so ergibt sich die Behauptung.
Eine gute Approximation für die Funktion erhält man daraus, wenn man den Betrag der -ten Ableitung abschätzen kann.
Es sei ein beschränktes abgeschlossenes Intervall,
eine -mal stetig differenzierbare Funktion, ein innerer Punkt und .
Dann gilt zwischen und dem -ten Taylor-Polynom die Fehlerabschätzung
Die Zahl existiert aufgrund von Satz 13.10, da nach Voraussetzung die -te Ableitung stetig auf dem kompakten Intervall ist. Die Aussage folgt somit direkt aus Satz 22.3.
Für die reelle Kosinusfunktion erhält man aus Korollar 22.4 in Verbindung mit Satz 20.15 und Satz 20.15 (bzw. direkt mit Satz 15.10 (6)) für jedes die Abschätzungen
Damit kann man den Funktionsverlauf des Kosinus beliebig gut approximieren und auch die Zahl beliebig genau bestimmen.
- Anwendung auf Extrema
Es sei ein reelles Intervall,
eine -mal stetig differenzierbare Funktion, und ein innerer Punkt des Intervalls. Es gelte
- Wenn gerade ist, so besitzt in kein lokales Extremum.
- Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Minimum.
- Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Maximum.
Unter den Voraussetzungen wird die Taylor-Formel zu
mit
(abhängig von )
zwischen
und .
Je nachdem, ob
oder
ist, gilt auch
(wegen der vorausgesetzten Stetigkeit der -ten Ableitung)
bzw.
für
für ein geeignetes
.
Für diese ist auch
,
sodass das Vorzeichen von vom Vorzeichen von abhängt.
Bei gerade ist ungerade und daher wechselt das Vorzeichen bei
(bei
ist das Vorzeichen negativ und bei
ist es positiv).
Da das Vorzeichen von sich nicht ändert, ändert sich das Vorzeichen von . Das bedeutet, dass kein Extremum vorliegen kann.
Es sei nun ungerade. Dann ist gerade, sodass
für alle
in der Umgebung ist. Das bedeutet in der Umgebung bei
,
dass
ist und in ein
isoliertes Minimum
vorliegt, und bei
,
dass
ist und in ein
isoliertes Maximum
vorliegt.
Für Polynome und allgemeiner für Funktionen, die durch eine Potenzreihe gegeben sind, lässt sich also stets allein unter Bezug auf die Ableitungen entscheiden, ob in einem Punkt ein lokales Extremum vorliegt. Bei Potenzreihen beruht dies auf dem
Identitätssatz.
- Die Taylor-Reihe
Es sei eine offene Teilmenge,
eine -oft differenzierbare Funktion und . Dann heißt
die Taylor-Reihe zu im Entwicklungspunkt .
Es sei eine Potenzreihe mit einem positiven Konvergenzradius und
die dadurch definierte Funktion.
Dann ist unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe im Entwicklungspunkt stimmt mit der vorgegebenen Potenzreihe überein.
Es sei
eine konvergente Potenzreihe mit dem Konvergenzradius und sei .
Dann erhält man die umentwickelte Reihe im Entwicklungspunkt als Taylor-Reihe von in .
Insbesondere konvergiert die Taylor-Reihe in mit einem Konvergenzradius .
Nach dem Entwicklungssatz wird die Funktion in einer offenen Umgebung von durch eine Potenzreihe beschrieben. Somit folgt die Aussage aus Satz 22.8.
Das folgende Beispiel zeigt, dass die Taylor-Reihe existieren und auch konvergieren kann, ohne dass dadurch die vorgegebene Funktion dargestellt wird
(sie kann auch existieren ohne zu konvergieren).
Wir betrachten die Funktion
mit
Wir behaupten, dass diese Funktion unendlich oft differenzierbar ist, was nur im Nullpunkt nicht offensichtlich ist. Man zeigt zunächst durch Induktion, dass sämtliche Ableitungen von (und der rechtsseitige Differenzenquotient im Nullpunkt) die Form mit gewissen Polynomen besitzen und dass davon der Limes für stets ist (siehe Aufgabe 22.20 und Aufgabe 22.21.). Daher ist der (rechtsseitige) Limes für alle Ableitungen gleich und existiert. Alle Ableitungen am Nullpunkt haben also den Wert und daher ist die Taylor-Reihe im Nullpunkt die Nullreihe. Die Funktion ist aber in keiner Umgebung des Nullpunktes die Nullfunktion, da ist.
- Fußnoten
- ↑ Oder genauer das Taylor-Polynom vom Grad . Wenn die -te Ableitung in null ist, so besitzt das -te Taylor-Polynom einen Grad kleiner als . Man spricht häufig auch von der Ordnung des Taylor-Polynoms.
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