Kurs:Analysis (Osnabrück 2021-2023)/Teil I/Vorlesung 5



Approximation

Ein grundlegender Gedanke der Mathematik ist der der Approximation, der in unterschiedlichen Kontexten auftritt und sowohl für die Mathematik als Hilfswissenschaft für die empirischen Wissenschaften als auch für den Aufbau der Mathematik selbst, insbesondere der Analysis, entscheidend ist.

Das erste Beispiel dazu ist das Messen, beispielsweise der Länge einer Strecke oder der Dauer eines Zeitabschnittes. Abhängig vom Kontext und der Zielsetzung gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was eine genaue Messung ist, und die gewünschte Genauigkeit hat eine Auswirkung auf das zu wählende Messinstrument.

Das Ergebnis einer Messung wird, bezogen auf eine physikalische Einheit, durch einen Dezimalbruch angegeben, also eine abbrechende „Kommazahl“, und die Anzahl der Nachkommaziffern gibt Aufschluss über die behauptete Genauigkeit. Zur Angabe von Messergebnissen braucht man also weder irrationale Zahlen noch rationale Zahlen, deren periodische Ziffernentwicklung nicht abbricht.

Betrachten wir die Meteorologie. Aus Messungen an verschiedenen Messstationen wird versucht, das Wetter der folgenden Tage mit mathematischen Modellen (und Computersimulation) zu berechnen. Hier wird man, um bessere Prognosen machen zu können, im Allgemeinen mehr Messstationen brauchen (wobei man irgendwann aufgrund von anderen Fehlerquellen mit zusätzlichen Messstationen die Prognosen nicht mehr optimieren kann).

Kommen wir zu innermathematischen Approximationen. Eine Strecke kann man zumindest ideell in gleichlange Teile unterteilen und man kann sich für die Länge der Teilstücke interessieren, oder man kann sich für die Länge der Diagonalen in einem Einheitsquadrat interessieren. Die Länge dieser Strecken könnte man prinzipiell auch messen, doch bietet die Mathematik bessere Beschreibungen dieser Längen an, indem sie beliebige rationale Zahlen und irrationale Zahlen (wie hier ) zur Verfügung stellt. Die Bestimmung einer guten Approximation erfolgt dann innermathematisch. Betrachten wir den Bruch . Eine Approximation dieser Zahl mit einer Genauigkeit von neun Nachkommastellen ist durch

gegeben. Die beiden Dezimalbrüche links und rechts sind also Approximationen (Abschätzungen) des wahren Bruches mit einem Fehler, der kleiner als ist. Dies ist eine typische Taschenrechnergenauigkeit, je nach Zielsetzung möchte man eine deutliche größere Genauigkeit (einen kleineren Fehler) haben. Die Rechnung in diesem Beispiel beruht auf dem Divisionsalgorithmus, den man beliebig weit durchführen kann, um beliebige Fehlergenauigkeiten zu erreichen (dass man wegen der auftretenden Periodizität irgendwann nur noch die weiteren Ziffern ablesen und nicht mehr rechnen muss, ist ein zusätzlicher Aspekt). Die Angabe einer Dezimalbruchapproximation einer gegebenen Zahl nennt man auch eine Rundung.

Sowohl in der empirischen als auch in der innermathematischen Situation gilt das folgende Approximationsprinzip.

Approximationsprinzip: Es gibt keine allgemeingültige Güte für eine Approximation. Ein gutes Approximationsverfahren ist keine einzelne Approximation, sondern eine Methode, mit der man zu jeder gewünschten Güte (Fehler, Toleranz, Genauigkeit, Abweichung) bei entsprechendem Aufwand eine Approximation finden kann, die diese vorgegebene Güte erreicht.

Mit diesem Prinzip im Hinterkopf werden viele Begriffe wie konvergente Folge und Stetigkeit, deren präzise Formulierungen ziemlich kompliziert aussehen, verständlich.

Approximationen treten auch in dem Sinne auf, dass man empirische Funktionen, von denen ein endliches Datensampling bekannt ist, durch mathematisch möglichst einfache Funktionen beschreiben möchte. Ein Beispiel dazu ist der Interpolationssatz. Später werden wir die Taylorformel kennenlernen, die eine Funktion in einer kleinen Umgebung eines einzelnen Punktes besonders gut durch ein Polynom approximiert. Auch hier gilt wieder das Approximationsprinzip in der Form, dass man, um die Funktion zunehmend besser zu approximieren, den Grad der Polynome zunehmend höher wählen muss. In der Integrationstheorie wird ein Funktionsgraph durch obere und untere Treppenfunktionen eingeschachtelt und damit der Flächeninhalt unterhalb des Graphen approximiert, mit feineren Treppenfunktionen (kürzeren Stufen) erhält man zunehmend bessere Approximationen.

Wie gut eine Approximation ist, zeigt sich oft erst dann, wenn man mit den Approximationen rechnen soll. Man möchte beispielsweise wissen, welche Abschätzung man für den Flächeninhalt eines Rechtecks hat, wenn man Abschätzungen für seine Seitenlängen hat. Und zwar fragt man sich, welchen Fehler man für die Seitenlängen erlauben darf, damit der Fehler des Flächeninhalts noch innerhalb einer gewünschten Toleranz bleibt.

Wir werden uns nun als Beispiel mit Quadratwurzeln beschäftigen und wie man diese approximieren kann, und zwar, wie man sie als den Limes einer Folge erhalten kann.



Folgen in einem angeordneten Körper

Es sei eine Menge. Eine Abbildung

nennt man auch eine Folge in .

Eine Folge wird zumeist als , oder einfach nur kurz als geschrieben. Im Folgenden beschränken wir uns auf Folgen, deren Werte in einem angeordneten Körper liegen, speziell in (reelle Folgen), im zweiten Teil werden wir auch mit Folgen in metrischen Räumen arbeiten. Manchmal sind Folgen nicht für alle natürlichen Zahlen definiert, sondern nur für alle natürlichen Zahlen . Alle Begriffe und Aussagen lassen sich dann sinngemäß auch auf diese Situation übertragen.

Wir beginnen mit zwei motivierenden Beispielen.


Eine reelle Zahl aus wird im Zehnersystem durch eine unendliche Dezimalbruchentwicklung der Form

wiedergegeben. Dabei sind die , , Ziffern aus und bezeichnet die -te Nachkommaziffer. Wenn man eine solche unendliche Ziffernentwicklung nur bis zur -ten Stelle liest und die weiteren Stellen vernachlässigt, so erhält man die rationalen Zahlen

die eine zunehmend bessere Approximation von darstellen. Der Fehler der -ten Approximation , also der Abstand , ist höchstens . Man kann also den Fehler beliebig klein machen, indem man die rationalen Approximationen für hinreichend große betrachtet.



Wir wollen die Quadratwurzel einer natürlichen Zahl „berechnen“, sagen wir von . Eine solche Zahl mit der Eigenschaft gibt es nicht innerhalb der rationalen Zahlen, wie aus der eindeutigen Primfaktorzerlegung folgt. Wenn ein solches Element ist, so hat auch diese Eigenschaft. Mehr als zwei Lösungen kann es aber nach Aufgabe 5.4 nicht geben, sodass wir nur nach der positiven Lösung suchen müssen.

Obwohl es innerhalb der rationalen Zahlen keine Lösung für die Gleichung gibt, so gibt es doch beliebig gute Approximationen innerhalb der rationalen Zahlen dafür. Beliebig gut heißt dabei, dass der Fehler (oder die Abweichung) unter jede positive Schranke gedrückt werden kann. Das klassische Verfahren, um eine Quadratwurzel beliebig gut anzunähern, ist das Heron-Verfahren, das man auch babylonisches Wurzelziehen nennt. Dies ist ein iteratives Verfahren, d.h., die nächste Approximation wird aus den vorausgehenden Approximationen berechnet. Beginnen wir mit als erster Näherung. Wegen ist zu groß, d.h. es ist . Aus (mit positiv) folgt zunächst und daraus , d.h. . Man hat also die Abschätzungen

wobei links eine rationale Zahl steht, wenn rechts eine rationale Zahl steht. Eine solche Abschätzung vermittelt offenbar eine quantitative Vorstellung darüber, wo liegt. Die Differenz ist ein Maß für die Güte der Approximation.

Beim Startwert ergibt sich, dass die Quadratwurzel von zwischen und liegt. Man nimmt nun das arithmetische Mittel der beiden Intervallgrenzen, also

Wegen ist dieser Wert wieder zu groß und daher liegt im Intervall . Von diesen Intervallgrenzen nimmt man erneut das arithmetische Mittel und setzt

als nächste Approximation. So fortfahrend erhält man eine immer besser werdende rationale Approximation von .



Allgemein ergibt sich das folgende Heron-Verfahren.


Es sei ein positives Element in einem angeordneten Körper. Die Heron-Folge zum positiven Startwert ist rekursiv durch

definiert.

Man berechnet also sukzessive das arithmetische Mittel aus und . Das Produkt dieser beiden Zahlen ist , somit ist die eine Zahl größer und die andere Zahl kleiner als . Die Idee des Verfahrens liegt darin, in der Mitte dieser beiden Zahlen eine bessere Approximation zu finden. Die Folgenglieder der Heron-Folge sind offenbar stets positiv. Typischerweise startet man mit einer natürlichen Zahl als Anfangswert, die in der Größenordnung der Quadratwurzel von liegt.

Die Idee, die dem Heron-Verfahren zugrunde liegt, kann man auch so verstehen: Man möchte ein Quadrat mit dem Flächeninhalt , also mit der Seitenlänge konstruieren. Man gibt sich eine approximierende Seitenlänge vor und betrachtet das Rechteck, dessen eine Seitenlänge und dessen Flächeninhalt ist. Dann muss die zweite Seitenlänge gleich sein. Wenn zu groß ist, muss zu klein sein. Für das nächste approximierende Rechteck nimmt man als eine Seitenlänge das arithmetische Mittel aus den beiden Seitenlängen des vorhergehenden Rechtecks.



Es sei ein angeordneter Körper und . Es sei ein positiver Startwert und die zugehörige Heron-Folge. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Für ist

    und

  2. Die Heron-Folge ist ab dem ersten Glied fallend.
  3. Es ist

    für .

  4. Für die Intervalllängen

    gilt die Beziehung

    und bei gilt insbesondere

  1. Es gilt
    Somit ist

    Wegen folgt nach Lemma 4.5  (8), dass ist.

  2. Aufgrund von (1) ist

    und aufgrund des strengen Wachstums des Quadrierens im positiven Teil ist

    Nach Aufgabe 4.26 liegt das arithmetische Mittel stets zwischen den beiden Zahlen, also ist

  3. Dies folgt aus (1) und (2).
  4. Nach der Rechnung in Teil (1) ist

    Bei ist

Das eben beschriebene Verfahren liefert also zu jeder natürlichen Zahl ein Element in , das eine durch eine gewisse algebraische Eigenschaft charakterisierte Zahl beliebig gut approximiert. Bei vielen technischen Anwendungen genügt es, gewisse Zahlen nur hinreichend genau zu kennen, wobei allerdings die benötigte Güte der Approximation von der technischen Zielsetzung abhängt. Es gibt im Allgemeinen keine Güte, die für jede vorstellbare Anwendung ausreicht, so dass es wichtig ist zu wissen, wie man eine gute Approximation durch eine bessere Approximation ersetzen kann und wie viele Schritte man machen muss, um eine gewünschte Approximation zu erreichen. Dies führt zum Konvergenzbegriff, der zentral für die gesamte Analysis ist.


Es sei eine Folge in einem angeordneten Körper und es sei . Man sagt, dass die Folge gegen konvergiert, wenn folgende Eigenschaft erfüllt ist.

Zu jedem , , gibt es ein derart, dass für alle die Beziehung

gilt. In diesem Fall heißt der Grenzwert oder der Limes der Folge. Dafür schreibt man auch

Wenn die Folge einen Grenzwert besitzt, so sagt man auch, dass sie konvergiert (ohne Bezug auf einen Grenzwert.), andernfalls, dass sie divergiert.

Man sollte sich dabei die vorgegebenen als kleine, aber positive Zahlen vorstellen, die jeweils eine gewünschte Zielgenauigkeit (oder einen erlaubten Fehler) ausdrücken. Die natürliche Zahl ist dann die Aufwandszahl, die beschreibt, wie weit man gehen muss, um die gewünschte Zielgenauigkeit zu erreichen, und zwar so zu erreichen, dass alle ab folgenden Glieder innerhalb dieser Zielgenauigkeit bleiben. Konvergenz bedeutet demnach, dass man jede gewünschte Genauigkeit bei hinreichend großem Aufwand auch erreichen kann. Je kleiner die Zielgenauigkeit, also je besser die Approximation sein soll, desto höher ist im Allgemeinen der Aufwand.

Zu einem und nennt man das Intervall auch die -Umgebung von . Eine Folge, die gegen konvergiert, heißt Nullfolge.



Eine konstante Folge ist stets konvergent mit dem Grenzwert . Dies folgt direkt daraus, dass man für jedes als Aufwandszahl nehmen kann. Es ist ja

für alle .

Es sei nun ein archimedisch angeordneter Körper. Dann ist die Folge

konvergent mit dem Grenzwert . Es sei dazu ein beliebiges , , vorgegeben. Aufgrund des Archimedes Axioms (siehe Lemma 4.14) gibt es ein mit

Damit gilt für alle die Abschätzung




Es sei ein angeordneter Körper und sei eine Folge in .

Dann besitzt maximal einen Grenzwert.

 Nehmen wir an, dass es zwei verschiedene Grenzwerte , , gibt. Dann ist . Wir betrachten . Wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit

und wegen der Konvergenz gegen gibt es ein mit

Beide Bedingungen gelten dann gleichermaßen für . Es sei mindestens so groß wie dieses Maximum. Dann ergibt sich aufgrund der Dreiecksungleichung der Widerspruch




Beschränktheit

Es sei ein angeordneter Körper und eine Teilmenge.

  1. Ein Element heißt eine obere Schranke für , wenn für alle gilt.
  2. Ein Element heißt eine untere Schranke für , wenn für alle gilt.
  3. heißt nach oben beschränkt, wenn eine obere Schranke für existiert.
  4. heißt nach unten beschränkt, wenn eine untere Schranke für existiert.
  5. heißt beschränkt, wenn sowohl nach oben als auch nach unten beschränkt ist.
  6. Ein Element heißt das Maximum von , wenn für alle gilt.
  7. Ein Element heißt das Minimum von , wenn für alle gilt.
  8. Eine obere Schranke von heißt das Supremum von , wenn für alle oberen Schranken von gilt.
  9. Eine untere Schranke von heißt das Infimum von , wenn für alle unteren Schranken von gilt.

Obere und untere Schranken muss es nicht geben. Wenn eine obere Schranke ist, so ist auch jede größere Zahl eine obere Schranke. Für das offene Intervall ist das Supremum, aber nicht das Maximum, da nicht dazu gehört. Entsprechend ist das Infimum, aber nicht das Minimum. Beim abgeschlossenen Intervall sind die beiden Grenzen Maximum und Minimum.

All diese Begriffe werden auch für Folgen angewendet, und zwar für die Bildmenge . Für die Folge , , ist das Maximum und das Supremum, ist das Infimum, aber nicht das Minimum.



Es sei ein angeordneter Körper. Wenn eine Folge in konvergent ist,

so ist sie auch beschränkt.

Es sei die konvergente Folge mit dem Limes und es sei ein gewählt. Aufgrund der Konvergenz gibt es ein derart, dass

Dann ist insbesondere

Unterhalb von gibt es nur endlich viele Zahlen, sodass das Maximum

wohldefiniert ist. Daher ist eine obere Schranke und eine untere Schranke für .


Es ist einfach, beschränkte, aber nicht konvergente Folgen anzugeben.


Es sei ein angeordneter Körper. Dann ist die alternierende Folge

beschränkt, aber nicht konvergent. Die Beschränktheit ist klar, da ja nur die beiden Werte und vorkommen. Konvergenz liegt aber nicht vor. Nehmen wir an, dass der Grenzwert sei. Dann gilt für positives und jedes ungerade die Beziehung

sodass es Folgenwerte außerhalb dieser -Umgebung gibt. Analog kann man einen negativ angenommen Grenzwert zum Widerspruch führen.


Wenn man im obigen Beispiel nur die geraden Indizes betrachtet, so ist konstant. Entsprechend ist für ungerade Indizes

konstant. Teilfolgen im Sinne der folgenden Definition können also andere Eigenschaften als die Folge selbst besitzen.


Es sei eine Folge in einer Menge . Zu jeder streng wachsenden Abbildung , , heißt die Folge

eine Teilfolge der Folge.


Es sei eine Folge in einem angeordneten Körper . Ein Element heißt Häufungspunkt der Folge, wenn es für jedes unendlich viele Folgenglieder mit gibt.

Ein Punkt ist genau dann Häufungspunkt einer Folge, wenn es eine Teilfolge gibt, die gegen konvergiert, siehe Aufgabe 5.38.


Eine Folge in einem angeordneten Körper heißt bestimmt divergent gegen , wenn es zu jedem ein mit

gibt. Sie heißt bestimmt divergent gegen , wenn es zu jedem ein mit

gibt.


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