Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil II/Vorlesung 37/kontrolle
- Differenzierbare Kurven
Es sei ein reelles Intervall, ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum und
eine Abbildung. Eine solche Abbildung nennen wir auch eine Kurve oder einen Weg in . Häufig stellt man sich dabei als ein Zeitintervall und die Abbildung als einen Bewegungsprozess im Raum vor. Jedem Zeitpunkt wird also ein Ortspunkt zugeordnet. Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich eine solche Abbildung zu veranschaulichen. Bei eindimensionalem , also , ist der Graph die übliche Darstellungsweise. Einen Graphen gibt es bekanntlich zu jeder Abbildung. Bei ist der Graph eine Teilmenge von . Häufig skizziert man bei einer Kurve bei oder nur das Bild (die Bahn) der Kurve. Man beachte aber, dass das Bild nur eine Teilinformation der Abbildung aufzeigt.
Bei einem Bewegungsprozess interessiert man sich natürlich für die „Geschwindigkeit“ zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dabei versteht man unter Geschwindigkeit nicht nur deren Betrag, sondern auch deren Richtung (die Sprechweisen sind uneinheitlich).
Eine gleichmäßige Bewegung auf einem Kreis mit Mittelpunkt und Radius , bei der eine volle Kreisbewegung die Zeit benötigt, die zum Zeitpunkt im Punkt startet und gegen den Uhrzeigersinn verläuft, wird durch
beschrieben. Der Geschwindigkeitsvektor der Kreisbewegung ist zu jedem Zeitpunkt tangential an den Ortspunkt auf dem Kreis (und steht senkrecht zum Ortsvektor). Die Norm der Geschwindigkeit ist bei einer Kreisbewegung konstant, aber die Richtung ändert sich kontinuierlich.
Die Vorstellung der Momentangeschwindigkeit wird durch den Begriff der differenzierbaren Kurve und ihrer Ableitung präzisiert, der eine direkte Verallgemeinerung von differenzierbaren Funktionen ist. Die Idee ist wieder, zu zwei Zeitpunkten den Durchschnittsgeschwindigkeitsvektor (die wir den Differenzenquotienten nennen)
zu betrachten und davon den Limes für zu bestimmen.
Um einen Limes bilden zu können, brauchen wir, wie schon im Eindimensionalen, eine Metrik (eine Abstandsfunktion) auf . Wir werden daher euklidische Vektorräume betrachten, also reelle endlichdimensionale Vektorräume, für die ein Skalarprodukt erklärt ist. Für den Begriff des Skalarprodukt siehe die 32. Vorlesung. Ein Skalarprodukt auf definiert über
eine Norm und über
eine Metrik. Für einen Vektor , der bezüglich einer Orthonormalbasis durch die Koordinaten
gegeben ist, lautet die Formel für die Norm
Da es auf jedem endlichdimensionalen Vektorraum eine Basis und damit eine dadurch induzierte bijektive lineare Abbildung
gibt, gibt es auch auf jedem reellen endlichdimensionalen Vektorraum ein Skalarprodukt und damit eine euklidische Metrik. Diese hängt jedoch von der gewählten Basis ab. Allerdings hängen die offenen Mengen, der Konvergenzbegriff und Grenzwerteigenschaften nicht von einer solchen Wahl ab, wie das folgende Lemma zeigt.
Es sei ein reeller endlichdimensionaler Vektorraum. Es seien zwei Skalarprodukte und auf gegeben.
Dann stimmen die über die zugehörigen Normen und definierten Topologien überein, d.h. eine Teilmenge ist genau dann offen bezüglich der einen Metrik, wenn sie offen bezüglich der anderen Metrik ist.
Zu einem Skalarprodukt in einem endlichdimensionalen reellen Vektorraum gibt es nach dem Schmidtschen Orthonormalisierungsvefahren eine Orthonormalbasis . Eine solche Orthonormalbasis definiert eine bijektive lineare Abbildung
die eine
Isometrie
ist. Insbesondere ist eine Teilmenge
genau dann
offen,
wenn die entsprechende Menge
offen ist.
Die beiden vorgegebenen Skalarprodukte entsprechen zwei bijektiven linearen Abbildungen
und
,
wobei die Standardbasis des jeweils auf eine
Orthonormalbasis
bezüglich des jeweiligen Skalarprodukts abgebildet wird. Diese Abbildungen sind
Isometrien,
sodass eine Teilmenge
genau dann bezüglich des Skalarproduktes offen ist, wenn dass
Urbild
offen im bezüglich der euklidischen Standardmetrik ist.
Die Verknüpfungen
und
sind lineare Abbildungen und nach Satz 34.10 stetig, sodass sich die offenen Mengen entsprechen: Ist nämlich offen bezüglich der ersten Metrik, so ist offen und damit ist wegen der Stetigkeit von auch
offen, sodass auch bezüglich der zweiten Metrik offen ist.
Für uns bedeutet das, dass die im Folgenden zu entwickelnden Differenzierbarkeitsbegriffe nicht vom gewählten Skalarprodukt abhängt. Mit etwa mehr Aufwand kann man auch zeigen, dass eine beliebige
(nicht notwendigerweise euklidische)
Norm
auf einem reellen endlichdimensionalen Vektorraum ebenfalls die gleiche Topologie definiert, und man genauso gut mit einer beliebigen Norm arbeiten könnte. Wenn wir es mit komplexen endlichdimensionalen Vektorräumen zu tun haben, so werden wir diese einfach als reelle Vektorräume
(der doppelten Dimension)
auffassen und ebenfalls mit einer euklidischen Norm versehen.
Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und
eine Abbildung. Dann heißt in differenzierbar, wenn der Limes
existiert. Dieser Limes heißt dann die Ableitung von in und wird mit
bezeichnet.
Die Ableitung ist selbst wieder ein Vektor in . Statt Ableitung spricht man auch vom Differentialquotienten in einem (Zeit)-Punkt .
Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und
eine Abbildung. Dann heißt differenzierbar, wenn in jedem Punkt differenzierbar ist. Die Abbildung
heißt dann die Ableitung von .
Die Ableitung einer differenzierbaren Kurve ist damit selbst wieder eine Kurve. Wenn die Ableitung stetig ist, so nennt man die Kurve stetig differenzierbar. Wenn die Ableitung selbst differenzierbar ist, so nennt man die Ableitung der Ableitung die zweite Ableitung der Ausgangskurve.
Das folgende Lemma zeigt, dass dieser Differenzierbarkeitsbegriff nichts wesentlich neues ist, da er auf die Differenzierbarkeit von Funktionen in einer Variablen zurückgeführt werden kann.
Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und
eine Abbildung. Es sei eine Basis von und es seien
die zugehörigen Komponentenfunktionen von . Es sei .
Dann ist genau dann differenzierbar in , wenn sämtliche Funktionen in differenzierbar sind.
In diesem Fall gilt
Sei , . Es ist
Nach Aufgabe 35.3 existiert der Limes links für genau dann, wenn der entsprechende Limes rechts komponentenweise existiert.
Bei der Formulierung von Rechenregeln für differenzierbare Wege
(und allgemeiner differenzierbare Abbildungen in höherer Dimension)
muss man etwas vorsichtiger sein als in der eindimensionalen Situation und insbesondere sicherstellen, dass die Verknüpfungen zusammenpassen.
Es sei ein reelles Intervall und ein euklidischer Vektorraum. Es seien
zwei in differenzierbare Kurven und es sei
eine in differenzierbare Funktion. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die Summe
ist in differenzierbar mit
- Das Produkt
ist differenzierbar in mit
Insbesondere ist für auch differenzierbar in mit
- Wenn nullstellenfrei ist, so ist auch die Quotientenfunktion
in differenzierbar mit
Beweis
Man kann natürlich zwei Abbildungen nicht miteinander multiplizieren, sodass in der obigen Produktregel eine differenzierbare Kurve und eine differenzierbare Funktion auftreten. Ebenso muss die Kettenregel mit Bedacht formuliert werden. Später werden wir noch eine allgemeinere Kettenregel kennenlernen.
Es seien und zwei reelle Intervalle, es sei
eine in differenzierbare Funktion und es sei
eine in differenzierbare Kurve in einem euklidischen Vektorraum .
Dann ist auch die zusammengesetzte Kurve
in differenzierbar und es gilt
Es seien die Komponentenfunktionen von bezüglich einer Basis von . Nach der Kettenregel in einer Variablen gilt
für jedes . Dies ist wegen Lemma 37.4 die Behauptung.
In der vorstehenden Situation sollte man sich als eine Umparametrisierung der Zeit vorstellen. Die Bahn der Kurve bleibt erhalten, es ändert sich aber die Geschwindigkeit und eventuell die Orientierung, mit der die Bahn durchlaufen wird. Wenn
,
die Negation ist, so wird die Kurve mit umgekehrter Zeitrichtung durchlaufen. Die Aussage besagt in diesem Fall, dass die Ableitung der umgekehrten Kurve negiert werden muss.
Es sei ein reelles Intervall, und seien euklidische Vektorräume und es sei
eine differenzierbare Kurve. Es sei
eine lineare Abbildung.
Dann ist auch die zusammengesetzte Abbildung
differenzierbar und es gilt
Sei fixiert und sei , . Wegen der Linearität ist
D.h. der Differenzenquotient zu ist gleich dem Wert unter des Differenzenquotienten zu . Wegen der Voraussetzung und der Stetigkeit einer linearen Abbildung existiert der Limes links für , also existiert auch der Limes rechts, und das bedeutet, dass der Differentialquotient der zusammengesetzten Abbildung existiert und mit dem Wert unter des Differentialquotienten zu übereinstimmt.