Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II/Vorlesung 52
- Der Zwischenwertsatz
Eine weit verbreitete, aber (ziemlich) falsche Vorstellung besagt, dass stetige Funktionen diejenigen sind, deren Graphen man mit dem Stift ohne abzusetzen zeichnen kann. Eine allerdings richtige Schlussfolgerung aus dieser Vorstellung ist, dass wenn eine stetige Funktion sowohl negative als auch positive Werte annimmt, sie dann auch die -Achse irgendwo durchstoßen muss und dass es daher eine Nullstelle geben muss. Dies ist der Inhalt des Zwischenwertsatzes.
Es seien reelle Zahlen und sei eine stetige Funktion. Es sei eine reelle Zahl zwischen und .
Dann gibt es ein mit .
Wir beschränken uns auf die Situation und zeigen die Existenz von einem solchen mit Hilfe einer Intervallhalbierung. Dazu setzt man und , betrachtet die Intervallmitte und berechnet
Bei setzt man
und bei setzt man
In jedem Fall hat das neue Intervall die halbe Länge des Ausgangsintervalls und liegt in diesem. Da es wieder die Voraussetzung erfüllt, können wir darauf das gleiche Verfahren anwenden und gelangen so rekursiv zu einer Intervallschachtelung. Sei die durch diese Intervallschachtelung gemäß Satz 48.2 definierte reelle Zahl. Für die unteren Intervallgrenzen gilt und das überträgt sich wegen der Stetigkeit nach dem Folgenkriterium auf den Grenzwert , also . Für die oberen Intervallgrenzen gilt und das überträgt sich ebenfalls auf , also . Also ist .
Die in diesem Beweis beschriebene Methode ist konstruktiv und kann zu einem expliziten Verfahren ausgebaut werden.
Es seien reelle Zahlen und sei eine stetige Funktion mit und .
Dann gibt es ein mit und mit ,
d.h. besitzt eine Nullstelle zwischen und .
Dies folgt direkt aus Satz 52.1.
Es seien reelle Zahlen und sei eine stetige Funktion mit und . Dann besitzt die Funktion aufgrund des Zwischenwertsatzes eine Nullstelle in diesem Intervall. Diese kann man wie im Beweis des Zwischenwertsatzes beschrieben durch eine Intervallhalbierung finden. Dazu setzt man und und betrachtet die Intervallmitte . Man berechnet
Bei setzt man
und bei setzt man
In jedem Fall hat das neue Intervall die halbe Länge des Ausgangsintervalls und liegt in diesem. Da es wieder die Voraussetzung erfüllt, können wir darauf das gleiche Verfahren anwenden und gelangen so rekursiv zu einer Intervallschachtelung. Die durch die Intervallschachtelung definierte reelle Zahl ist eine Nullstelle der Funktion.
Wir wollen eine Nullstelle des Polynoms
mit Hilfe von Verfahren 52.3 approximieren. Es ist und , es muss also nach Korollar 52.2 eine Nullstelle im Intervall geben. Wir berechnen den Funktionswert an der Intervallmitte und erhalten
Wir müssen also mit dem rechten Teilintervall weitermachen. Dessen Intervallmitte ist . Der Funktionswert an dieser Stelle ist
Jetzt müssen wir mit dem linken Teilintervall weitermachen, dessen Mitte ist . Der Funktionswert an dieser Stelle ist
Somit wissen wir, dass es eine Nullstelle zwischen und gibt.
Mit der im Beweis des Zwischenwertsatzes verwendeten Intervallhalbierungsmethode kann man insbesondere auch Quadratwurzeln „ausrechnen“, also Folgen angeben, die gegen die Quadratwurzel konvergieren. Die Konvergenzgeschwindigkeit beim babylonischen Wurzelziehen ist aber deutlich höher.
Mit dem Zwischenwertsatz erhält man einen neuen Beweis für die Existenz von beliebigen Wurzeln aus nichtnegativen reellen Zahlen. Sei und . Man betrachtet die Funktion
die nach Korollar 51.10 stetig ist. Es ist
und für hinreichend groß (beispielsweise für ) ist
Somit gibt es ein mit
also
Ein regelmäßiger quadratischer Tisch mit vier Beinen steht auf einem unebenen, aber stufenfreien Untergrund. Im Moment steht er auf den Beinen und das Bein ragt in die Höhe (wenn man in ihrer Position belässt und auf den Boden drückt, würde versinken). Wir behaupten, dass man den Tisch durch eine (maximal Viertel)-Drehung um die eigene Achse (sagen wir gegen den Uhrzeigersinn) in eine Position bringen kann, wo er auf allen vier Beinen steht (wobei der Tisch nicht unbedingt genau horizontal stehen muss). Dazu betrachten wir die Funktion, die einem Drehwinkel (zwischen und Grad) die Höhe des Beines über dem Grund zuordnet, wenn die drei übrigen Beine auf dem Boden stehen (würden). Dabei kann diese Höhe auch negativ werden (was sich bei einem sandigen Untergrund praktisch realisieren lässt; sonst denke man sich dies „virtuell“). Bei Grad ist die Höhe positiv. Bei Grad erhält man eine Situation, die symmetrisch zur Ausgangssposition ist, wobei aber nach wie vor die Beine auf dem Boden sein sollen. Wegen der in der Klammer formulierten Beobachtung muss die Höhe von negativ sein. Die Funktion hat also auf dem Intervall sowohl positive als auch negative Werte. Da sie wegen der Stufenfreiheit stetig ist, besitzt sie nach dem Zwischenwertsatz auch eine Nullstelle.
Die Abbildung
ist stetig, sie genügt aber nicht dem Zwischenwertsatz. Für ist und für ist , es gibt aber kein mit , da dafür sein muss, wofür es in keine Lösung gibt. Der Zwischenwertsatz funktioniert also nur für reelle Zahlen.
Unter den reellen Zahlen sind manche von den ganzen oder rationalen Zahlen her besser erfassbar als andere. Die rationalen Zahlen sind als Brüche mit ganzen Zahlen als Zähler und Nenner erfassbar, und man kann sie als Lösungen von Gleichungen der Form mit ganzzahligen Koeffizienten auffassen. Die Quadratwurzel ist eine irrationale Zahl, die aber die Gleichung erfüllt, welche über den ganzen Zahlen formulierbar ist. Dies gilt für alle Zahlen der Form mit , sie lösen die Gleichung bzw. sie sind eine Nullstelle des ganzzahligen Polynoms . Auch Wurzeln aus rationalen Zahlen kann man als eine Nullstelle eines ganzzahligen (wo alle Koeffizienten zu gehören) Polynoms ansehen. Es ist nämlich eine Nullstelle von . Man kann nun die Teilmenge der reellen Zahlen
betrachten. Dazu gehören alle Wurzeln aus rationalen Zahlen, aber noch viele weitere Zahlen darüber hinaus. Sobald ein ganzzahliges Polynom sowohl negative als auch positive Werte annimmt, gibt es nach dem Zwischenwertsatz auch eine Nullstelle und diese gehört nach Definition zu . Beispielsweise gehört die in Beispiel 52.4 approximierte Nullstelle (zwischen und ) von zu dieser Menge. Da diese Zahlen durch ganzzahlige Polynome erfassbar sind, spricht man von reell-algebraischen Zahlen. Diese Zahlen bilden sogar einen Körper, den Körper der reell-algebraischen Zahlen, was keineswegs selbstverständlich ist. Beispielsweise bilden die Quadratwurzeln keinen Körper, es ist keine Quadratwurzel einer natürlichen Zahl, wohl aber eine reell-algebraische Zahl. Aufgrund von schwierigen Sätzen sind die Eulersche Zahl und die Kreiszahl nicht algebraisch, man spricht von transzendenten Zahlen.
Es sei ein reelles Intervall und eine stetige Funktion.
Dann ist auch das Bild ein Intervall.
Sei . Aus dem Zwischenwertsatz folgt sofort, dass wenn sind und mit gegeben ist, auch sein muss. Nach Aufgabe 48.8 ist ein Intervall.
- Stetige bijektive Funktionen und ihre Umkehrfunktion
Für eine bijektive stetige Funktion auf einem reellen Intervall ist die Umkehrabbildung wieder stetig. Dies ist keineswegs selbstverständlich.
Es sei ein Intervall und
eine stetige, streng wachsende Funktion.
Dann ist das Bild
ebenfalls ein Intervall, und die Umkehrabbildung
ist ebenfalls stetig.
Dass das Bild wieder ein Intervall ist folgt aus
Korollar 52.9.
Die Funktion ist
injektiv,
da sie streng wachsend ist und damit ist die Abbildung
auf das Bild
bijektiv.
Die Umkehrfunktion
ist ebenfalls streng wachsend.
Sei
und
vorgegeben.
Es sei zunächst kein
Randpunkt
von . Dann ist auch kein Randpunkt von . Sei
vorgegeben und ohne Einschränkung
angenommen. Dann ist
und für gilt wegen der Monotonie
Also ist stetig in . Wenn ein Randpunkt von ist, so ist auch ein Randpunkt von , sagen wir der rechte Randpunkt. Dann ist zu vorgegebenem
wieder
und
erfüllt die geforderte Eigenschaft.
- Stetigkeit der Wurzeln
Es sei . Für ungerade ist
die Potenzfunktion
stetig, streng wachsend, bijektiv und die Umkehrfunktion
ist streng wachsend und stetig.
Für gerade ist die Potenzfunktion
stetig, streng wachsend, bijektiv und die Umkehrfunktion
ist streng wachsend und stetig.
Die Stetigkeit ergibt sich aus Korollar 51.9. Das Wachstumsverhalten wurde für die Potenzfunktionen in Lemma 25.18 bewiesen. Für ist , woraus die Unbeschränktheit des Bildes nach oben folgt. Bei ungerade folgt ebenso die Unbeschränktheit des Bildes nach unten. Aufgrund des Zwischenwertsatzes ist das Bild daher bzw. . Somit sind die angegebenen Potenzfunktionen surjektiv und die Umkehrfunktionen existieren. Das Wachstumsverhalten überträgt sich auf die Umkehrfunktionen. Die Stetigkeit der Umkehrfunktionen folgt aus Satz 52.10.
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