Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil I/Vorlesung 30

Zu einer konvergenten Potenzreihe bilden die Teilpolynome polynomiale Approximationen für die Funktion im Punkt . Ferner ist in beliebig oft differenzierbar und die Ableitungen lassen sich aus der Potenzreihe ablesen. Wir fragen uns nun umgekehrt, inwiefern man aus den höheren Ableitungen einer hinreichend oft differenzierbaren Funktion approximierende Polynome (oder eine Potenzreihe) erhalten kann. Dies ist der Inhalt der Taylor-Entwicklung.



Die Taylor-Formel

Es sei eine offene Teilmenge,

eine -mal differenzierbare Funktion und . Dann heißt

das Taylor-Polynom vom Grad[1] zu im Entwicklungspunkt .



Es sei ein reelles Intervall,

eine -mal differenzierbare Funktion und ein innerer Punkt des Intervalls.

Dann gibt es zu jedem Punkt ein mit

Dabei kann zwischen und gewählt werden.

Es sei fixiert. In Anlehnung an die zu beweisende Aussage betrachten wir zu den Ausdruck

den wir als Funktion in auffassen. Es ist und wir wählen derart, dass ist, was möglich ist. Die Funktion

ist auf dem Teilintervall (bzw. , falls ist.) differenzierbar (nach ) und besitzt an den beiden Intervallgrenzen den Wert . Nach dem Satz von Rolle gibt es ein mit .

Aufgrund der Produktregel und der Kettenregel ist (Ableitung nach )

Daher heben sich in der Ableitung von die meisten Terme weg und es ergibt sich

Aus der Gleichung

folgt . Wenn wir dies und in die Anfangsgleichung einsetzen und ausnutzen, so ergibt sich die Behauptung.



Es sei ein beschränktes abgeschlossenes Intervall,

eine -mal stetig differenzierbare Funktion, ein innerer Punkt und .

Dann gilt zwischen und dem -ten Taylor-Polynom die Fehlerabschätzung

Die Zahl existiert aufgrund von Satz 22.7, da nach Voraussetzung die -te Ableitung stetig auf dem kompakten Intervall ist. Die Aussage folgt somit direkt aus Satz 30.2.



Es sei ein reelles Intervall,

eine -mal stetig differenzierbare Funktion, und ein innerer Punkt des Intervalls. Es gelte

Dann gelten folgende Aussagen.
  1. Wenn gerade ist, so besitzt in kein lokales Extremum.
  2. Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Minimum.
  3. Es sei ungerade. Bei besitzt in ein isoliertes lokales Maximum.

Unter den Voraussetzungen wird die Taylor-Formel zu

mit (abhängig von ) zwischen und . Je nachdem, ob oder ist, gilt auch (wegen der vorausgesetzten Stetigkeit der -ten Ableitung) bzw. für für ein geeignetes . Für diese ist auch , sodass das Vorzeichen von vom Vorzeichen von abhängt.
Bei gerade ist ungerade und daher wechselt das Vorzeichen bei (bei ist das Vorzeichen negativ und bei ist es positiv). Da das Vorzeichen von sich nicht ändert, ändert sich das Vorzeichen von . Das bedeutet, dass kein Extremum vorliegen kann.
Es sei nun ungerade. Dann ist gerade, sodass für alle in der Umgebung ist. Das bedeutet in der Umgebung bei , dass ist und in ein isoliertes Minimum vorliegt, und bei , dass ist und in ein isoliertes Maximum vorliegt.




Die Taylor-Reihe
Die reelle Sinusfunktion zusammen mit verschiedenen approximierenden Taylor-Polynomen (von ungeradem Grad).

Es sei eine offene Teilmenge,

eine -oft differenzierbare Funktion und . Dann heißt

die Taylor-Reihe zu im Entwicklungspunkt .



Es sei eine Potenzreihe mit einem positiven Konvergenzradius und

die dadurch definierte Funktion.

Dann ist unendlich oft differenzierbar und die Taylor-Reihe im Entwicklungspunkt stimmt mit der vorgegebenen Potenzreihe überein.

Die unendliche Differenzierbarkeit folgt direkt aus Satz 29.1 durch Induktion. Daher existiert die Taylor-Reihe insbesondere im Punkt . Es ist also lediglich noch zu zeigen, dass die -te Ableitung von in den Wert besitzt. Dies folgt aber ebenfalls aus Satz 29.1.



Wir betrachten die Funktion

mit

Wir behaupten, dass diese Funktion unendlich oft differenzierbar ist, was nur im Nullpunkt nicht offensichtlich ist. Man zeigt zunächst durch Induktion, dass sämtliche Ableitungen von (und der rechtsseitige Differenzenquotient im Nullpunkt) die Form mit gewissen Polynomen besitzen und dass davon der Limes für stets ist (siehe Aufgabe 30.7 und Aufgabe 30.8.). Daher ist der (rechtsseitige) Limes für alle Ableitungen gleich und existiert. Alle Ableitungen am Nullpunkt haben also den Wert und daher ist die Taylor-Reihe im Nullpunkt die Nullreihe. Die Funktion ist aber in keiner Umgebung des Nullpunktes die Nullfunktion, da ist.




Der Fundamentalsatz der Algebra

Wir beenden diese Vorlesung mit einem Beweis für den sogenannten Fundamentalsatz der Algebra. Er wurde erstmals 1799 von Gauß bewiesen.



Jedes nichtkonstante Polynom über den komplexen Zahlen

besitzt eine Nullstelle.

Es sei ein nichtkonstantes Polynom. Aufgrund von Korollar 22.9 gibt es ein mit für alle . Wir müssen zeigen, dass dieses Betragsminimum ist. Wir nehmen also an, dass ist, und müssen dann ein finden, an dem der Betrag des Polynoms kleiner wird. Durch Verschieben (d.h. indem wir die Situation in der neuen Variablen betrachten) können wir annehmen, dass das Minimum an der Stelle angenommen wird, und durch Division durch können wir annehmen, dass das Polynom im Nullpunkt den Wert besitzt. D.h. wir können annehmen, dass ein Polynom

mit und vorliegt, das im Nullpunkt das Betragsminimum annimmt. Wegen Korollar 29.13 gibt es ein mit . Wir setzen (das ist eine Variablenstreckung). In der neuen Variablen erhalten wir ein Polynom der Form

das nach wie vor im Nullpunkt das Betragsminimum annimmt (hierbei ist ein Polynom). Aufgrund von Satz 22.7 gibt es ein mit für alle . Für reelles mit gilt

Wir haben also Stellen gefunden, wo der Betrag des Polynoms einen kleineren Wert annimmt, ein Widerspruch.




Fußnoten
  1. Oder genauer das Taylor-Polynom vom Grad . Wenn die -te Ableitung in null ist, so besitzt das -te Taylor-Polynom einen Grad kleiner als . Man spricht häufig auch von der Ordnung des Taylor-Polynoms.



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