Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil I/Vorlesung 29



Ableitung von Potenzreihen



Es sei

eine

konvergente Potenzreihe mit dem Konvergenzradius .

Dann ist auch die formal abgeleitete Potenzreihe

konvergent mit demselben Konvergenzradius. Die durch die Potenzreihe dargestellte Funktion ist in jedem Punkt differenzierbar mit

Es sei , , vorgegeben und sei  mit . Dann konvergiert gemäß der Definition von Konvergenzradius. Wegen für hinreichend groß ist

sodass die Potenzreihe in und somit in konvergiert (dafür, dass der Konvergenzradius von nicht größer als ist, siehe Aufgabe 29.2).
Die Potenzreihe

ist ebenfalls in dieser Kreisscheibe konvergent, stellt eine nach Korollar 26.9 stetige Funktion dar und besitzt in den Wert . Daher zeigt die Gleichung (von Potenzreihen und dargestellten Funktionen)

dass in linear approximierbar, also nach Satz 27.5 differenzierbar ist mit der Ableitung


Es sei nun . Nach dem Entwicklungssatz gibt es eine konvergente Potenzreihe mit Entwicklungspunkt ,

deren dargestellte Funktion mit der durch dargestellten Funktion in einer offenen Umgebung von übereinstimmt, und wobei gilt. Daher gilt nach dem schon Bewiesenen (angewendet auf und die formale Potenzreihenableitung )




Die Exponentialfunktion

ist differenzierbar mit

Aufgrund von Satz 29.1 ist



Die Ableitung des natürlichen Logarithmus

ist

Beweis

Siehe Aufgabe 29.4.



Es sei .

Dann ist die Funktion

differenzierbar und ihre Ableitung ist

Nach Aufgabe 26.10 ist

Die Ableitung nach ist aufgrund von Satz 29.2, Korollar 29.3 und der Kettenregel gleich



Für die eulersche Zahl gilt die Gleichheit

Die äußeren Gleichheiten sind Definitionen. Aufgrund von Korollar 29.3 ist . Dies bedeutet aufgrund der Definition des Differentialquotienten insbesondere

Wir schreiben die Folgenglieder der linken Seite als und wenden darauf die Exponentialfunktion an. Daraus ergibt sich unter Verwendung der Stetigkeit und der Funktionalgleichung der Exponentialfunktion die Gleichungskette



Die Sinusfunktion

ist differenzierbar mit

und die

Kosinusfunktion

ist differenzierbar mit

Beweis

Siehe Aufgabe 29.10.



Die Zahl

Die Zahl ist der Flächeninhalt bzw. der halbe Kreisumfang eines Kreises mit Radius . Um darauf eine präzise Definition dieser Zahl aufzubauen müsste man zuerst die Maßtheorie (bzw. die Länge von „krummen Kurven“) entwickeln. Auch die trigonometrischen Funktionen haben eine intuitive Interpretation am Einheitskreis, doch auch diese setzt das Konzept der Bogenlänge voraus. Ein alternativer Zugang ist es, die Zahl über analytische Eigenschaften der durch ihre Potenzreihen definierten Funktionen Sinus und Kosinus zu definieren und dann erst nach und nach die Beziehung zum Kreis herzustellen (siehe Beispiel 33.11 und Beispiel 41.12).



Die Kosinusfunktion

besitzt im reellen Intervall genau eine Nullstelle.

Wir betrachten die Kosinusreihe

Für ist . Für kann man geschickt klammern und erhält

Nach dem Zwischenwertsatz gibt es also mindestens eine Nullstelle im angegebenen Intervall.
Zum Beweis der Eindeutigkeit betrachten wir die Ableitung des Kosinus, diese ist nach Fakt *****

Es genügt zu zeigen, dass der Sinus im Intervall positiv ist, denn dann ist das Negative davon stets negativ und der Kosinus ist dann nach Satz 28.5 im angegebenen Intervall streng fallend, sodass es nur eine Nullstelle gibt. Für gilt



Eine rationale Approximation der Zahl auf einem -Pie.



Es sei die eindeutig bestimmte reelle Nullstelle der Kosinusfunktion aus dem Intervall . Die Kreiszahl ist durch

definiert.



Die Sinusfunktion und die Kosinusfunktion erfüllen in folgende Periodizitätseigenschaften.

  1. Es ist und für alle .
  2. Es ist und für alle .
  3. Es ist und für alle .
  4. Es ist , , und . Die Nullstellen des Kosinus sind von der Form , .
  5. Es ist , , , und . Die Nullstellen des Sinus sind von der Form , .

Aufgrund der Kreisgleichung

ist , also ist wegen der Überlegung im Beweis zu Lemma 29.7. Daraus folgen mit den Additionstheoremen die in (3) angegebenen Beziehungen zwischen Sinus und Kosinus, beispielsweise ist

Es genügt daher, die Aussagen für den Kosinus zu beweisen. Alle Aussagen folgen dann aus der Definition von und aus (3). Dass die trigonometrischen Funktionen außer den angegebenen reellen Nullstellen keine weiteren Nullstellen in besitzen wurde in Aufgabe ***** bewiesen.




Die reelle Sinusfunktion

induziert eine bijektive, streng wachsende Funktion

und die reelle Kosinusfunktion induziert eine bijektive streng fallende Funktion

Beweis

Siehe Aufgabe 29.16.




Polarkoordinaten für



Die komplexe Exponentialfunktion besitzt die folgenden Eigenschaften.

  1. Es ist .
  2. Es ist genau dann, wenn für ein ist.
  3. Es ist genau dann, wenn für ein ist.

Dies folgt aus Satz 25.11, aus Satz 29.9 und aus Satz 25.8.


Insbesondere gilt also die berühmte Formel

Aus der Eulerschen Gleichung

kann man ebenso die Gleichung bzw. ablesen, die die fünf wichtigsten Zahlen der Mathematik enthält.



Zu jeder komplexen Zahl , ,

gibt es eine eindeutige Darstellung

mit und mit .

Wegen Satz 25.11 ist

d.h. ist als Betrag der komplexen Zahl festgelegt. Wir können durch den Betrag teilen und können dann davon ausgehen, dass eine komplexe Zahl

mit und mit vorliegt. Es ist dann zu zeigen, dass es eine eindeutige Darstellung

gibt. Bei (bzw. ) ist und (bzw. ) ist die einzige Lösung. Wir zeigen, dass es für ein gegebenes stets genau zwei Möglichkeiten für mit gibt, und eine davon wird durch das Vorzeichen von ausgeschlossen. Bei gibt es aufgrund von Korollar 29.10 ein eindeutiges mit . Für dieses gilt wegen und . Bei gibt es wiederum ein eindeutiges mit . Wegen ist dies aber keine Lösung für beide Gleichungen. Stattdessen erfüllt beide Gleichungen.


Die in diesem Satz beschriebene Darstellung für eine komplexe Zahl heißen ihre Polarkoordinaten. Zu heißt der Betrag und das Argument (oder der Winkel) von .



Es sei eine komplexe Zahl und .

Dann gibt es eine komplexe Zahl mit

Bei ist eine Lösung, sei also . Nach Satz 29.12 gibt es eine Darstellung

mit . Es sei die reelle -te Wurzel von , die nach Satz 21.9 existiert. Wir setzen . Dann ist nach Satz 25.8

Diese letzte Aussage besagt, dass jedes Polynom der Form in mindestens eine Nullstelle besitzt. Insofern handelt es sich dabei um eine Vorstufe für den Fundamentalsatz der Algebra, den wir das nächste Mal unter Verwendung dieser Aussage beweisen werden.


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