Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II/Vorlesung 40



Differenzierbare Kurven
Eine Animation des Graphen der trigonometrischen Parametrisierung des Einheitskreises. Die grünen Punkte sind Punkte des Graphen.


Es sei ein reelles Intervall, ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum und

eine Abbildung. Eine solche Abbildung nennen wir auch eine Kurve oder einen Weg in . Häufig stellt man sich dabei als ein Zeitintervall und die Abbildung als einen Bewegungsprozess im Raum vor. Jedem Zeitpunkt wird also ein Ortspunkt zugeordnet. Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich eine solche Abbildung zu veranschaulichen. Bei eindimensionalem , also , ist der Graph die übliche Darstellungsweise. Einen Graphen gibt es bekanntlich zu jeder Abbildung. Bei ist der Graph eine Teilmenge von . Häufig skizziert man bei einer Kurve bei oder nur das Bild der Kurve. Man beachte aber, dass das Bild nur eine Teilinformation der Abbildung aufzeigt.

Bei einem Bewegungsprozess interessiert man sich natürlich für die „Geschwindigkeit“ zu einem bestimmten Zeitpunkt. Dabei versteht man unter Geschwindigkeit nicht nur deren Betrag, sondern auch deren Richtung. Diese Vorstellung wird durch den Begriff der differenzierbaren Kurve präzisiert, der eine direkte Verallgemeinerung von differenzierbaren Funktionen ist. Die Idee ist wieder, zu zwei Zeitpunkten die Steigung der Sekante (die wir wieder den Differenzenquotienten nennen)

und davon den Limes für zu betrachten. Um einen Limes bilden zu können, brauchen wir, wie schon im Eindimensionalen, eine Metrik (eine Abstandsfunktion) auf . Wir werden daher euklidische Vektorräume betrachten, also reelle endlichdimensionale Vektorräume, für die ein Skalarprodukt erklärt ist. Für den Begriff des Skalarprodukt siehe die 18. Vorlesung aus dem ersten Semester. Ein Skalarprodukt auf definiert über

eine Norm und über

eine Metrik. Für einen Vektor , der bzgl. einer Orthonormalbasis durch die Koordinaten

gegeben ist, lautet die Formel für die Norm

Da es auf jedem endlichdimensionalen Vektorraum eine Basis und damit eine dadurch induzierte bijektive lineare Abbildung

gibt, gibt es auch auf jedem reellen endlichdimensionalen Vektorraum ein Skalarprodukt und damit eine euklidische Metrik. Diese hängt jedoch von der gewählten Basis ab. Allerdings hängen die offenen Mengen, der Konvergenzbegriff und Grenzwerteigenschaften nicht von einer solchen Wahl ab, wie das folgende Lemma zeigt.


Lemma  

Es sei ein reeller endlichdimensionaler Vektorraum. Es seien zwei Skalarprodukte und auf gegeben.

Dann stimmen die über die zugehörigen Normen und definierten Topologien überein, d.h. eine Teilmenge ist genau dann offen bezüglich der einen Metrik, wenn sie offen bezüglich der anderen Metrik ist.

Beweis  

Zu einem Skalarprodukt in einem endlichdimensionalen reellen Vektorraum gibt es nach dem Schmidtschen Orthonormalisierungsvefahren eine Orthonormalbasis . Eine solche Orthonormalbasis definiert eine bijektive lineare Abbildung

die eine Isometrie ist. Insbesondere ist eine Teilmenge genau dann offen, wenn die entsprechende Menge offen ist.
Die beiden vorgegebenen Skalarprodukte entsprechen zwei bijektiven linearen Abbildungen und , wobei die Standardbasis des jeweils auf eine Orthonormalbasis bezüglich des jeweiligen Skalarprodukts abgebildet wird. Diese Abbildungen sind Isometrien, so dass eine Teilmenge genau dann bezüglich des Skalarproduktes offen ist, wenn dass Urbild offen im bezüglich der euklidischen Standardmetrik ist.
Die Verknüpfungen

und

sind lineare Abbildungen und nach Satz 20.11 stetig, so dass sich die offenen Mengen entsprechen: Ist nämlich offen bezüglich der ersten Metrik, so ist offen und damit ist wegen der Stetigkeit von auch

offen, so dass auch bezüglich der zweiten Metrik offen ist.


Für uns bedeutet das, dass die im Folgenden zu entwickelnden Differenzierbarkeitsbegriffe nicht vom gewählten Skalarprodukt abhängt. Mit etwa mehr Aufwand kann man auch zeigen, dass eine beliebige (nicht notwendigerweise euklidische) Norm auf einem reellen endlichdimensionalen Vektorraum ebenfalls die gleiche Topologie definiert, und man genauso gut mit einer beliebigen Norm arbeiten könnte. Wenn wir es mit komplexen endlichdimensionalen Vektorräumen zu tun haben, so werden wir diese einfach als reelle Vektorräume (der doppelten Dimension) auffassen und ebenfalls mit einer euklidischen Norm versehen.


Definition  

Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und

eine Abbildung. Dann heißt in differenzierbar, wenn der Limes

existiert. Dieser Limes heißt dann die Ableitung von in und wird mit

bezeichnet.

Die Ableitung ist selbst wieder ein Vektor in . Statt Ableitung spricht man auch vom Differentialquotienten in einem (Zeit)-Punkt .


Definition  

Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und

eine Abbildung. Dann heißt differenzierbar, wenn in jedem Punkt differenzierbar ist. Die Abbildung

heißt dann die Ableitung von .

Die Ableitung einer differenzierbaren Kurve ist damit selbst wieder eine Kurve. Wenn die Ableitung stetig ist, so nennt man die Kurve stetig differenzierbar. Wenn die Ableitung selbst differenzierbar ist, so nennt man die Ableitung der Ableitung die zweite Ableitung der Ausgangskurve.

Das folgende Lemma zeigt, dass dieser Differenzierbarkeitsbegriff nichts wesentlich neues ist, da er auf die Differenzierbarkeit von Funktionen in einer Variablen zurückgeführt werden kann.


Lemma  

Es sei ein reelles Intervall, ein euklidischer Vektorraum und

eine Abbildung. Es sei eine Basis von und es seien

die zugehörigen Komponentenfunktionen von . Es sei .

Dann ist genau dann differenzierbar in , wenn sämtliche Funktionen in differenzierbar sind.

In diesem Fall gilt

Beweis  

Sei , . Es ist

Nach Aufgabe ***** existiert der Limes links für genau dann, wenn der entsprechende Limes rechts komponentenweise existiert.



Beispiel  

Die Kurve

ist in jedem Punkt differenzierbar, und zwar ist



Bei der Formulierung von Rechenregeln für differenzierbare Wege (und allgemeiner differenzierbare Abbildungen in höherer Dimension) muss man etwas vorsichtiger sein als in der eindimensionalen Situation und insbesondere sicherstellen, dass die Verknüpfungen zusammenpassen.


Lemma

Es sei ein reelles Intervall und ein euklidischer Vektorraum. Es seien

zwei in differenzierbare Kurven und es sei

eine in differenzierbare Funktion. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Summe

    ist in differenzierbar mit

  2. Das Produkt

    ist differenzierbar in mit

    Insbesondere ist für auch differenzierbar in mit

  3. Wenn nullstellenfrei ist, so ist auch die Quotientenfunktion

    in differenzierbar mit

Beweis

Siehe Aufgabe 40.4.

Man kann natürlich zwei Abbildungen nicht miteinander multiplizieren, so dass in der obigen Produktregel eine differenzierbare Kurve und eine differenzierbare Funktion auftreten. Ebenso muss die Kettenregel mit Bedacht formuliert werden. Später werden wir noch eine allgemeinere Kettenregel kennenlernen.



Lemma  

Es seien und zwei reelle Intervalle, es sei

eine in differenzierbare Funktion und es sei

eine in differenzierbare Kurve in einem euklidischen Vektorraum .

Dann ist auch die zusammengesetzte Kurve

in differenzierbar und es gilt

Beweis  

Es seien die Komponentenfunktionen von bezüglich einer Basis von . Nach der Kettenregel in einer Variablen gilt

für jedes . Dies ist wegen Lemma 40.4 die Behauptung.


In der vorstehenden Situation sollte man sich als eine Umparametrisierung der Zeit vorstellen. Die Bahn der Kurve bleibt erhalten, es ändert sich aber die Geschwindigkeit und eventuell die Orientierung, mit der die Bahn durchlaufen wird. Wenn , die Negation ist, so wird die Kurve mit umgekehrter Zeitrichtung durchlaufen. Die Aussage besagt in diesem Fall, dass die Ableitung der umgekehrten Kurve negiert werden muss.



Lemma  

Es sei ein reelles Intervall, und seien euklidische Vektorräume und es sei

eine differenzierbare Kurve. Es sei

eine lineare Abbildung.

Dann ist auch die zusammengesetzte Abbildung

differenzierbar und es gilt

Beweis  

Sei fixiert und sei , . Wegen der Linearität ist

D.h. der Differenzenquotient zu ist gleich dem Wert unter des Differenzenquotienten zu . Wegen der Voraussetzung und der Stetigkeit einer linearen Abbildung existiert der Limes links für , also existiert auch der Limes rechts, und das bedeutet, dass der Differentialquotient der zusammengesetzten Abbildung existiert und mit dem Wert unter des Differentialquotienten zu übereinstimmt.



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