Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 1



Komplex differenzierbare Funktionen

Die Funktionentheorie beschäftigt sich mit komplex differenzierbaren Funktionen von nach bzw. von einer offenen Teilmenge davon. Wir wiederholen den Differenzierbarkeitsbegriff mit seinen Rechenregeln, wobei wir den Fall und parallel behandeln und dafür schreiben. Im Laufe der Vorlesung wird sich aber ergeben, dass sich die komplexe von der reellen Situation in vielfältiger Hinsicht unterscheidet.


Es sei offen, ein Punkt und

eine Funktion. Man sagt, dass differenzierbar in ist, wenn der Limes

existiert. Im Fall der Existenz heißt dieser Limes der Differentialquotient oder die Ableitung von in , geschrieben


Es sei offen, ein Punkt und

eine Funktion.

Dann ist in genau dann differenzierbar, wenn es ein und eine Funktion

gibt mit stetig in und und mit

Die in diesem Satz formulierte Eigenschaft, die zur Differenzierbarkeit äquivalent ist, nennt man auch die lineare Approximierbarkeit. Die affin-lineare Abbildung

heißt dabei die affin-lineare Approximation. Ihr Graph heißt die Tangente an im Punkt . Die durch gegebene konstante Funktion kann man als konstante Approximation ansehen. Das Konzept der linearen Approximierbarkeit erlaubt es, die Differenzierbarkeit auf die Stetigkeit (einer anderen Funktion) zurückzuführen und dadurch verschiedene Rechenregeln einfach beweisen zu können.


Es sei offen, ein Punkt und

eine Funktion, die im Punkt differenzierbar sei.

Dann ist stetig in .

Die folgenden Rechenregeln für differenzierbare Funktionen kann man über die lineare Approximierbarkeit oder über Rechenregeln für Funktionslimiten beweisen, wie dies in Analysis I durchgeführt wird.


Es sei offen, ein Punkt und

Funktionen, die in differenzierbar seien.

Dann ist die Summe differenzierbar in mit

Die folgende Ableitungsregel heißt Produktregel.


Es sei offen, ein Punkt und

Funktionen, die in differenzierbar seien.

Dann ist das Produkt differenzierbar in mit


Eine Polynomfunktion

ist in jedem Punkt differenzierbar, und für die Ableitung gilt

Die folgende Ableitungsregel heißt Quotientenregel.


Es sei offen, ein Punkt und

Funktionen, die in differenzierbar seien. Die Funktion habe keine Nullstelle in .

Dann ist differenzierbar in mit

Die folgende Ableitungsregel heißt Kettenregel.


Es seien und offene Mengen in und seien

und

Funktionen mit . Es sei in differenzierbar und sei in

differenzierbar.

Dann ist auch die Hintereinanderschaltung

in differenzierbar mit der Ableitung


Es seien und offene Mengen in und sei

eine bijektive stetige Funktion mit einer stetigen Umkehrfunktion

Es sei in

differenzierbar mit .

Dann ist auch die Umkehrfunktion in differenzierbar mit


Es sei offen und

eine Funktion. Man sagt, dass differenzierbar ist, wenn für jeden Punkt die Ableitung von in existiert. Die Abbildung

heißt die Ableitung (oder Ableitungsfunktion) von .


Es sei offen und

eine Funktion. Man sagt, dass -mal differenzierbar ist, wenn -mal differenzierbar ist und die -te Ableitung differenzierbar ist. Die Ableitung

nennt man dann die -te Ableitung von .


Es sei offen und

eine Funktion. Man sagt, dass n-mal stetig differenzierbar ist, wenn n-mal differenzierbar ist und die n-te Ableitung stetig ist.


Eine auf einer offenen Menge definierte Funktion

heißt holomorph, wenn sie komplex differenzierbar ist.

Diesen Begriff werden wir erst dann verwenden, wenn wir gezeigt haben (siehe Satz 14.2), dass eine komplex differenzierbare Funktion viele weitere Eigenschaften erfüllt.


Eine Funktion

die in jedem Punkt komplex differenzierbar ist, heißt ganze Funktion.

Jedes komplexe Polynom definiert eine ganze Funktion. Auch die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funktionen sind ganz.


Es sei offen und sei

eine Funktion. Eine Funktion

heißt Stammfunktion zu , wenn auf differenzierbar ist und für alle gilt.

Es sei erwähnt, dass eine stetige komplexe Funktion im Allgemeinen keine Stammfunktion besitzt. Dies ist ein großer Unterschied zur reellen Analysis, vergleiche Korollar 24.5 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)).



Rationale Funktionen

Zu Polynomen , , heißt die Funktion

wobei das Komplement der Nullstellen von ist, eine rationale Funktion.

Polynomfunktionen sind insbesondere rationale Funktionen. Die einfachste rationale Funktion, die keine Polynomfunktion ist, ist die komplexe Invertierung

Sie ist im Nullpunkt nicht definiert und lässt sich im Nullpunkt auch nicht stetig fortsetzen. Dies beruht darauf, dass sich auch die zugehörige Betragsfunktion, also

nicht stetig fortsetzen lässt. Reell betrachtet handelt es sich um die Abbildung

und für jede Folge, die in der Ebene gegen konvergiert, divergiert die Bildfolge bestimmt gegen . Für jede endliche Punktmenge ist die rationale Funktion

eine auf definierte rationale Funktion, die sich in die Punkte nicht stetig fortsetzen kann.



Es seien Polynome und es sei .

Dann ist die rationale Funktion

differenzierbar mit der Ableitung

Dies folgt aus Korollar 1.6 und der Quotientenregel.



Für ist die (auf definierte) rationale Funktion mit

differenzierbar, mit der Ableitung

Dies folgt direkt aus Lemma 1.17.


Damit gilt diese Formel für alle Potenzen einer normierten Linearform mit einem ganzzahligen Exponenten. Im reellen Fall gilt sie auch für beliebige reelle positive Argumente und beliebige reelle Exponenten, siehe Korollar 20.13 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)). Im komplexen Fall ist ein Ausdruck wie

gar nicht definiert, und lässt sich auch nicht komplex-differenzierbar auf ganz definieren.

Eine rationale Funktion wie ist keine ganze Funktion. Aus dem Fundamentalsatz der Algebra ergibt sich, dass eine rationale Funktion nur dann ganz ist, wenn sie ein Polynom ist.

Der folgende Satz heißt Satz über die komplexe Partialbruchzerlegung.


Es seien , , Polynome und es sei

mit verschiedenen .

Dann gibt es ein eindeutig bestimmtes Polynom und eindeutig bestimmte Koeffizienten , , , mit

Die Division mit Rest liefert eine eindeutige Darstellung

mit . Wir müssen daher die Aussage nur für Quotienten aus Polynomen zeigen, bei denen der Grad des Zählerpolynoms kleiner als der Grad des Nennerpolynoms ist. Wir führen Induktion über den Grad des Nennerpolynoms. Bei ist nichts zu zeigen, denn der Quotient steht bereits in der gewünschten Form. Es sei nun ein Nennerpolynom vom Grad und die Aussage sei für kleineren Grad bereits bewiesen. Es sei ein Linearfaktor von , sodass wir

schreiben können, wobei den Grad besitzt. Die Ordnung von in sei . Wir setzen

an. Dies führt auf

aus der wir und bestimmen wollen. Da die Gleichheit insbesondere für gelten soll, muss

sein, wobei diese Division erlaubt ist, da die als verschieden vorausgesetzt worden sind. Wir betrachten nun

mit dem soeben bestimmten Wert . Für diese Differenz ist dann nach Konstruktion eine Nullstelle, sodass man nach Lemma 11.6 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) durch teilen kann, also

erhält. Dadurch ist eindeutig festgelegt. Der Grad von ist kleiner als der Grad von und daher ist der Grad von auch kleiner als der Grad von . Daher können wir auf die Induktionsvoraussetzung anwenden.


Es sei ein Körper und der Polynomring in einer Variablen über . Dann nennt man den Quotientenkörper den rationalen Funktionenkörper über (oder Körper der rationalen Funktionen über ). Er wird mit bezeichnet.

Die Elemente im Körper der rationalen Funktionen sind also Brüche der Form mit Polynomen und , wobei identifiziert werden, wenn im Polynomring gilt. Diese Gleichung gilt bei genau dann, wenn die Gleichheit als rationale Funktionen außerhalb der Nullstellen von und gilt.



Es sei die Menge der rationalen Funktionen über . Dann gelten folgende Eigenschaften.

  1. ist mit der punktweisen Addition und Multiplikation ein Körper.
  2. Mit gehört auch die Hintereinanderschaltung zu .
  3. Mit gehört auch die Ableitung zu .
  1. Klar.
  2. Siehe Aufgabe 1.14.
  3. Siehe Aufgabe 1.15.



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