Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II/Vorlesung 32
- Der Mittelwertsatz der Integralrechnung
Zu einer Riemann-integrierbaren Funktion kann man
als die Durchschnittshöhe der Funktion ansehen, da dieser Wert mit der Länge des Grundintervalls multipliziert den Flächeninhalt unterhalb des Graphen zu ergibt. Der Mittelwertsatz der Integralrechnung besagt, dass für eine stetige Funktion dieser Durchschnittswert (oder Mittelwert) von der Funktion auch angenommen wird.
Über dem kompakten Intervall ist die Funktion nach oben und nach unten beschränkt, es seien und das Minimum bzw. das Maximum der Funktion, die aufgrund von Fakt ***** angenommen werden. Dann ist insbesondere für alle und
Daher ist mit einem und aufgrund des Zwischenwertsatzes gibt es ein mit .
- Der Hauptsatz der Infinitesimalrechnung
Es ist geschickt auch Integralgrenzen zuzulassen, bei denen die untere Integralgrenze die obere Intervallgrenze und die obere Integralgrenze die untere Intervallgrenze ist. Dazu definieren wir für und eine integrierbare Funktion
Es sei ein reelles Intervall und sei
eine Riemann-integrierbare Funktion und . Dann heißt die Funktion
die Integralfunktion zu zum Startpunkt .
Man spricht auch von der Flächenfunktion oder einem unbestimmten Integral.
Die folgende Aussage heißt Hauptsatz der Infinitesimalrechnung.
Es sei ein reelles Intervall und sei
eine stetige Funktion. Es sei und es sei
die zugehörige Integralfunktion.
Dann ist differenzierbar und es gilt
für alle .
Es sei fixiert. Der Differenzenquotient ist
Wir müssen zeigen, dass für der Limes existiert und gleich ist. Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung gibt es zu jedem ein mit
und damit ist
Für konvergiert gegen und wegen der Stetigkeit von konvergiert gegen .
- Stammfunktion
Zur Definition von Stammfunktionen setzen wir wieder . Wir werden uns aber weitgehend auf den reellen Fall beschränken.
Es sei offen und sei
eine Funktion. Eine Funktion
heißt Stammfunktion zu , wenn auf differenzierbar ist und für alle gilt.
Den Hauptsatz der Infinitesimalrechnung kann man zusammen mit Satz 31.14 als einen Existenzsatz für Stammfunktionen interpretieren.
Es sei ein beliebiger Punkt. Aufgrund von Satz 31.14 existiert das Riemann-Integral
und aufgrund des Hauptsatzes ist , d.h. ist eine Stammfunktion von .
Es sei ein reelles Intervall und sei
eine Funktion. Es seien und zwei Stammfunktionen von .
Dann ist eine konstante Funktion.
Die folgende Aussage ist ebenfalls eine Version des Hauptsatzes, der darin ausgedrückte Zusammenhang heißt auch Newton-Leibniz-Formel.
Es sei ein reelles Intervall und sei
eine stetige Funktion, für die eine Stammfunktion sei.
Dann gilt für die Gleichheit
Aufgrund von Satz 31.14 existiert das Integral. Mit der Integralfunktion
gilt die Beziehung
Aufgrund von Satz 32.3 ist differenzierbar mit
d.h. ist eine Stammfunktion von . Wegen Lemma 32.6 ist . Daher ist
Da eine Stammfunktion nur bis auf eine additive Konstante bestimmt ist, schreibt man manchmal
und nennt eine Integrationskonstante. In gewissen Situationen, insbesondere im Zusammenhang mit Differentialgleichungen, wird diese Konstante durch zusätzliche Bedingungen festgelegt.
Es sei ein reelles Intervall und eine Stammfunktion zu . Es seien . Dann setzt man
Diese Notation wird hauptsächlich bei Rechnungen verwendet, vor allem beim Ermitteln von bestimmten Integralen.
Mit den schon im ersten Semester bestimmten Ableitungen von differenzierbaren Funktionen erhält man sofort eine Liste von Stammfunktionen zu einigen wichtigen Funktionen. In der nächsten Vorlesung werden wir weitere Regeln zum Auffinden von Stammfunktionen kennenlernen, die auf Ableitungsregeln beruhen. Im Allgemeinen ist das Auffinden von Stammfunktionen schwierig.
Die Stammfunktion zu , wobei und , , ist, ist .
Die Stammfunktion der Funktion ist der natürliche Logarithmus.
Die Stammfunktion der Exponentialfunktion ist die Exponentialfunktion selbst.
Die Stammfunktion von ist , die Stammfunktion von ist .
Die Stammfunktion von ist , es ist ja
Die Stammfunktion von ist , es ist ja
In der übernächsten Vorlesung werden wir eine Verfahren angeben, wie man zu einer beliebigen rationalen Funktion
(also einem Quotienten aus zwei Polynomen)
eine Stammfunktion finden kann.
Siehe hier für eine Tabelle von wichtigen Stammfunktionen.
Achtung! Integrationsregeln sind nur anwendbar auf Funktionen, die im gesamten Intervall definiert sind. Z.B. gilt nicht
da hier über eine Definitionslücke hinweg integriert wird.
Wir betrachten die Funktion
mit
Diese Funktion ist nicht Riemann-integrierbar, da sie weder nach oben noch nach unten beschränkt ist. Es existieren also weder untere noch obere Treppenfunktionen für . Trotzdem besitzt eine Stammfunktion. Dazu betrachten wir die Funktion
Diese Funktion ist differenzierbar. Für ergibt sich die Ableitung
Für ist der Differenzenquotient gleich
Für existiert der Grenzwert und ist gleich , sodass überall differenzierbar ist (aber nicht stetig differenzierbar). Der erste Summand in ist stetig und besitzt daher nach Korollar 32.5 eine Stammfunktion . Daher ist eine Stammfunktion von . Dies ergibt sich für aus der expliziten Ableitung und für aus
- Stammfunktionen zu Potenzreihen
Wir erinnern daran, dass die Ableitung einer konvergenten Potenzreihe gliedweise gewonnen werden kann, siehe Vorlesung 29.
Es sei
eine in konvergente Potenzreihe.
Dann ist die Potenzreihe
ebenfalls in konvergent und stellt dort eine Stammfunktion für dar.
Es sei . Nach Voraussetzung und nach Lemma 26.7 ist dann auch die Reihe
konvergent. Für jedes gelten die Abschätzungen
Daher gilt für ein die Abschätzung
Die rechte Reihe konvergiert nach Voraussetzung und ist daher eine
konvergente Majorante
für die linke Reihe.
Daher
konvergiert auch und nach
Satz 24.8
auch .
Die Stammfunktionseigenschaft folgt aus
Satz 29.1.
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