Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil II/Vorlesung 43

Wir beschäftigen uns nun mit der Differentialrechnung für Abbildungen mit höherdimensionalem Definitionsbereich. Dazu seien reelle(oder komplexen) endlichdimensionale Vektorräume und gegeben. Ferner sei eine offene Teilmenge und

eine Abbildung. Diese Abbildung wollen wir „differenzieren“. Anders als in den bisher behandelten Situationen gibt es bei einem höherdimensionalen Definitionsbereich mehrere nicht äquivalente Konzepte von Differenzierbarkeit. Wir werden nacheinander die Richtungsableitung, partielle Ableitungen und das totale Differential sowie ihre Beziehungen untereinander diskutieren. Wir werden durchgehend voraussetzen, dass die Vektorräume endlichdimensional sind und mit einem Skalarprodukt und damit mit einer euklidischen Metrik versehen sind.


Es ist erstmal keine große Einschränkung, wenn man den Zielraum als ansetzt. Als Definitionsmenge kann man sich zunächst auf beschränken, und sich vorstellen, dass die Abbildung jedem Grundpunkt einen Höhepunkt zuordnet, sodass die Abbildung insgesamt ein Gebirge über einer Grundfläche beschreibt.



Richtungsableitung

Wir stellen uns vor, wir sind an einem Ort im Gebirge und entschließen uns, in eine bestimmte Richtung, beispielsweise nach Nordwest zu gehen, egal was kommen mag. Damit machen wir sämtliche Steigungen und Abhänge mit, die das Gebirge uns in dieser vorgegebenen Richtung bietet. Dabei lernen wir nur den Höhenverlauf des Gebirges entlang dieses linearen Ausschnitts (Querschnitts) kennen. Durch die gewählte Richtung bewegen wir uns auf dem Graphen zu einer Funktion in einer einzigen Variablen, nämlich einer Variablen der Grundgeraden. Dies ist die Grundidee der Richtungsableitung.


Es seien und endlichdimensionale normierte Vektorräume, eine offene Teilmenge, und eine Abbildung. Weiter sei ein Punkt und ein fixierter Vektor. Dann heißt differenzierbar in in Richtung , falls der Grenzwert

existiert. In diesem Fall heißt dieser Grenzwert die Ableitung von in in Richtung . Er wird mit

bezeichnet.

Den Ausdruck

nennt man wieder den Differenzenquotienten im Punkt in Richtung von bis . Er misst die Durchschnittsrichtung (oder Durchschnittssteigung bei ) von in Richtung für das Zeitintervall . Die Richtungsableitung in einem Punkt und in eine Richtung ist selbst ein Vektor in . Bei ist die Richtungsableitung eine reelle oder komplexe Zahl.


Wir betrachten die Abbildung

in einem Punkt in Richtung . Der Differenzenquotient ist

Für gehen die beiden hinteren Summanden gegen , sodass sich insgesamt

ergibt.

Im Punkt ergibt sich in Richtung beispielsweise die Richtungsableitung



Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume und sei

eine lineare Abbildung. Dann existiert die Richtungsableitung in jedem Punkt und in jede Richtung , und zwar ist

insbesondere ist also die Richtungsableitung unabhängig vom Punkt. Dies folgt direkt durch Betrachten des Differenzenquotienten; es ist nämlich

Daher ist auch der Limes für gleich .


Die Existenz von hängt nur von der Abbildung , , ab (wobei das Intervall (im reellen Fall) bzw. der offene Ball (im komplexen Fall) so gewählt ist, dass auch impliziert. D.h. dass gilt). Daher kann man die Richtungsableitung im Wesentlichen auf die Ableitung von Kurven zurückführen.


Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, eine offene Teilmenge, und eine Abbildung. Es sei ein Punkt und ein fixierter Vektor.

Dann ist in in Richtung genau dann differenzierbar, wenn die (auf einem Intervall bzw. einer offenen Ballumgebung um definierte) Kurve

in differenzierbar ist. In diesem Fall ist

Beweis

Siehe Aufgabe 43.6.



Wir bestimmen die Richtungsableitung zur Funktion

im Punkt in Richtung . Dazu müssen wir die Hilfsfunktion

im Nullpunkt ableiten. Es ist

Die Ableitung von dieser Funktion im Nullpunkt ist

also ist




Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, sei offen, ein Punkt, ein Vektor und seien

Abbildungen, die im Punkt in Richtung differenzierbar seien. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Summe ist ebenfalls differenzierbar in Richtung mit
  2. Das Produkt mit ist ebenfalls differenzierbar in Richtung mit
  3. Die Funktion ist auch in Richtung  mit differenzierbar und es gilt

Die Eigenschaften (1) und (2) ergeben sich aus den entsprechenden Eigenschaften für Limiten von Abbildungen, siehe Lemma 35.7. Für die Eigenschaft (3) siehe Aufgabe 43.18.


Im Rahmen der Theorie des totalen Differentials wird die Frage beantwortet, wie sich die Richtungsableitungen zu verschiedenen Richtungen zueinander verhalten. Ohne weitere Voraussetzung gibt es keine Beziehung zwischen und .


Es sei der Einheitskreis und

eine Funktion mit der Eigenschaft

Mit dieser Funktion definieren wir

durch

Der Graph dieser Funktion besteht aus einem Büschel von Geraden durch den Nullpunkt. Insbesondere existieren im Nullpunkt sämtliche Richtungsableitungen. Da man aber willkürlich vorgeben kann, haben die Richtungsableitungen nichts miteinander zu tun.


Wenn im Werteraum eine Basis gegeben ist, so kann man die Richtungsableitung komponentenweise bestimmen.



Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, sei offen, ein Punkt und sei ein Vektor. Es sei

eine Abbildung. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Es sei der Produktraum

    aus endlichdimensionalen Vektorräumen . Dann ist genau dann in differenzierbar in Richtung , wenn sämtliche Komponentenabbildungen

    in in Richtung differenzierbar sind. In diesem Fall gilt

  2. Es sei eine Basis von mit den Koordinaten

    Dann ist in in Richtung genau dann differenzierbar, wenn sämtliche Komponentenfunktionen

    in in Richtung differenzierbar sind. In diesem Fall ist

Die erste Aussage folgt aus der zweiten, wenn man für die einzelnen Vektorräume Basen einführt (umgekehrt ist auch der zweite Teil ein Spezialfall des ersten). Die zweite Aussage folgt aus Aufgabe 35.3 oder aus Lemma 37.4 in Verbindung mit Lemma 43.4.

Aufgrund von diesem Lemma muss man vor allem die Richtungsableitung für den Fall verstehen, wo der Wertebereich gleich ist.

Das folgende einfache Beispiel zeigt, dass durchaus alle Richtungsableitungen (und zwar in jedem Punkt) existieren können, die Abbildung selbst aber noch nicht einmal stetig sein muss.


Wir betrachten die Funktion mit

Für einen Vektor und einen reellen Parameter erhalten wir auf der Geraden die Funktion

Für ist der Nenner stets positiv und die Funktion ist stetig mit dem Wert bei , und als rationale Funktion in differenzierbar. Für ist die Funktion konstant und damit ebenfalls differenzierbar. Also existieren in alle Richtungsableitungen zu . Die Funktion ist allerdings nicht stetig: Für die Folge (die gegen konvergiert) gilt

aber .


Im Allgemeinen möchte man nicht nur in einem einzigen Punkt ableiten können, sondern in jedem Punkt, was durch die folgende naheliegende Definition präzisiert wird.


Seien und endlichdimensionale - Vektorräume sei eine offene Teilmenge, sei eine Abbildung und ein fixierter Vektor. Dann heißt differenzierbar in Richtung , falls in jedem Punkt in Richtung differenzierbar ist. In diesem Fall heißt die Abbildung

die Richtungsableitung von in Richtung .

Die Richtungsableitung zu einem fixierten Vektor ist also vom selben Typ wie die Ausgangsabbildung.


Wir betrachten die polynomiale Funktion

Die Richtungsableitung in Richtung in einem beliebigen Punkt

ergibt sich durch Betrachten des Differenzenquotienten, also

Dabei ist eine polynomiale Funktion in (die und die sind fixierte Zahlen). Der Limes von geht für gegen . Daher ist


In den Aufgaben werden wir sehen, dass die Richtungsableitung zu einer polynomialen Funktion in jede Richtung existiert und selbst wieder polynomial ist. Dies wird sich auch einfach im Rahmen des totalen Differentials ergeben.


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