Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil II/Vorlesung 47
- Linearformen und Bilinearformen
Zu offen und einer reellwertigen Funktion
interessieren wir uns wie schon bei einem eindimensionalen Definitionsbereich für die Extrema, also Maxima und Minima, der Funktion, und inwiefern man dies anhand der Ableitungen (falls diese existieren) erkennen kann. Wenn eine solche Funktion total differenzierbar ist, so ist das totale Differential in einem Punkt eine lineare Abbildung von nach . Für solche linearen Abbildungen gibt es einen eigenen Namen.
Das totale Differential zu ist also eine Linearform.
Wenn ist, so bilden die partiellen Ableitungen in einem Punkt eine Matrix mit einer einzigen Zeile, nämlich
die bei stetigen partiellen Ableitungen das totale Differential repräsentiert. Eine solche Matrix kann man aber ebenso gut als ein -Tupel in und damit als einen Vektor über auffassen. Dieser Zusammenhang zwischen Vektoren und Linearformen beruht auf dem Standardskalarprodukt des , und lässt sich konzeptioneller mit Hilfe von Bilinearformen erfassen.
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Eine Abbildung
heißt Bilinearform, wenn für alle die induzierten Abbildungen
und für alle die induzierten Abbildungen
- linear sind.
Eine wichtige Eigenschaft von Bilinearformen, die Skalarprodukte erfüllen, wird in der nächsten Definition formuliert.
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum. Eine Bilinearform
heißt nicht ausgeartet, wenn für alle , die induzierten Abbildungen
und für alle , die induzierten Abbildungen
nicht die Nullabbildung sind.
In dieser Vorlesung werden wir für Vektorräume, auf denen eine nicht-ausgeartete Bilinearform gegeben ist, eine bijektive Beziehung zwischen Vektoren und Linearformen beweisen und damit einen Zusammenhang zwischen dem totalen Differential zu einer Funktion in einem Punkt und einem Vektor, dem sogenannten Gradienten der Funktion in diesem Punkt, herstellen.
- Der Gradient
Es sei ein Körper und ein - Vektorraum, der mit einer Bilinearform versehen sei. Dann gelten folgende Aussagen
- Für jeden Vektor sind die Zuordnungen
und
- linear.
- Die Zuordnung
ist -linear.
- Wenn nicht ausgeartet ist, so ist die Zuordnung in (2) injektiv. Ist zusätzlich endlichdimensional, so ist diese Zuordnung bijektiv.
(1) folgt unmittelbar aus der Bilinearität.
(2). Seien
und
.
Dann ist für jeden Vektor
und dies bedeutet gerade die Linearität der Zuordnung.
(3). Da die Zuordnung nach (2) linear ist, müssen wir zeigen, dass der
Kern
davon trivial ist. Es sei also
so, dass die Nullabbildung ist. D.h.
für alle
.
Dann muss aber nach der Definition von
nicht ausgeartet
sein.
Wenn endliche Dimension hat, so liegt eine injektive lineare Abbildung zwischen Vektorräumen der gleichen Dimension vor, und eine solche ist nach
Satz Anhang A.2
bijektiv.
Wenn es also in einem endlichdimensionalen Vektorraum eine nicht ausgeartete Bilinearform gibt, beispielsweise ein Skalarprodukt, so gibt es zu jeder Linearform einen eindeutig bestimmten Vektor, mit dem diese Linearform beschrieben werden kann. Wendet man dies auf die Linearform an, die durch das totale Differential zu einer differenzierbaren Funktion
gegeben ist, so gelangt man zum Begriff des Gradienten.
Es sei ein euklidischer Vektorraum, offen und
eine in differenzierbare Funktion. Dann nennt man den eindeutig bestimmten Vektor mit
für alle den Gradienten von in . Er wird mit
bezeichnet.
Man beachte, dass wir durchgehend die endlichdimensionalen Vektorräume mit einem Skalarprodukt versehen, um topologische Grundbegriffe wie Konvergenz und Stetigkeit zur Verfügung zu haben, dass diese Begriffe aber nicht von dem gewählten Skalarprodukt abhängen. Dem entgegen hängt aber der Gradient von dem gewählten Skalarprodukt ab.
Bei , versehen mit dem Standardskalarprodukt, ist der Gradient einfach gleich
Zu einer differenzierbaren Funktion lässt sich der Gradient (bezüglich des Standardskalarproduktes) einfach durch partielles Differenzieren berechnen. Es wäre aber eine künstliche Einschränkung, nur diese Situation zu betrachten. Um dies zu illustrieren sei beispielsweise
eine differenzierbare Funktion und eine Ebene, die etwa als Lösungsmenge der linearen Gleichung gegeben sei. Dann induziert das Standardskalarprodukt des durch Einschränkung ein Skalarprodukt auf . Diese Ebene ist zwar isomorph zu , es ergibt aber keinen Sinn, das eingeschränkte Skalarprodukt als Standardskalarprodukt anzusprechen. Der Gradient zu in einem Punkt lässt sich direkt mit den partiellen Ableitungen zu den drei Raumkoordinaten berechnen. Bei wird im Allgemeinen der Gradient nicht auf liegen. Die eingeschränkte Funktion
ist aber ebenfalls differenzierbar und besitzt daher einen Gradienten , der auf liegt, und dieser lässt sich nicht über partielle Ableitungen berechnen, da es auf keine Standardbasis gibt. Übrigens ist die orthogonale Projektion von auf .
Es sei ein euklidischer Vektorraum, sei offen und sei
eine in differenzierbare Funktion. Dann gelten folgende Aussagen.
- Für jeden Vektor
ist
- Dabei gilt Gleichheit genau dann, wenn linear abhängig zum Gradienten ist.
- Sei . Unter allen Vektoren mit ist die Richtungsableitung in Richtung des normierten Gradienten maximal, und zwar gleich der Norm des Gradienten.
(1) folgt wegen
direkt aus der
Abschätzung von Cauchy-Schwarz.
(2) ergibt sich aus den Zusätzen zur Abschätzung von Cauchy-Schwarz, siehe
Aufgabe 32.9.
(3). Aus (1) und (2) folgt, dass
gilt, und dass diese beiden Vektoren die einzigen Vektoren der Norm sind, für die diese Gleichung gilt. Wenn man links die Betragstriche weglässt, so gilt die Gleichheit für nach wie vor, da das Skalarprodukt positiv definit ist.
Der Gradient gibt demnach die Richtung an, in die die Funktion den stärksten Anstieg hat. In die entgegengesetze Richtung liegt entsprechend der steilste Abstieg vor.
Ein Punkt legt das Rechteck mit den Eckpunkten fest. Wenn der Punkt bewegt wird, bewegt sich das zugehörige Rechteck mit.
In welche Richtung muss der Punkt bewegt werden, damit der Umfang des Rechteckes möglichst schnell wächst? Der Umfang des Rechteckes ist durch
gegeben, nach Satz 47.8 wächst diese Funktion am schnellsten in Richtung des Gradienten, also in Richtung , was insbesondere unabhängig vom gegebenen Eckpunkt ist.
In welche Richtung muss der Punkt bewegt werden, damit der Flächeninhalt des Rechteckes möglichst schnell wächst? Der Flächeninhalt des Rechteckes ist durch
gegeben, nach Satz 47.8 wächst diese Funktion am schnellsten in Richtung des Gradienten, also in Richtung .
- Gradient und Niveaumengen
Zu einer Funktion
wobei ein metrischer Raum sei, nennt man zu die Menge
die Niveaumenge zu zum Wert .
Wir werden Niveaumengen (ein anderes Wort ist Faser oder bei auch Höhenlinie) später systematischer untersuchen. Die folgende Aussage bedeutet, dass der Gradient stets senkrecht auf den Niveaumengen steht. Da ein Bach stets dem steilsten Abstieg folgt, verläuft ein Bach stets senkrecht zu den Höhenlinien.
Es sei ein euklidischer Vektorraum, offen und
eine in differenzierbare Funktion. Es sei
eine differenzierbare Kurve mit , die ganz innerhalb einer Niveaumenge von verläuft.
Dann steht der Gradient zu senkrecht auf .
Es sei die Niveaumenge zu , in der die Kurve verlaufe. Dann ist die Hintereinanderschaltung konstant gleich und daher ist unter Verwendung der Kettenregel
Daher liegt
im Kern von , und das bedeutet, dass senkrecht auf dem Gradienten steht.
- Lokale Extrema von Funktionen in mehreren Variablen
Wir wollen mit den Mitteln der Differentialrechnung Kriterien erarbeiten, in welchen Punkten eine Funktion
ein lokales Minimum oder ein lokales Maximum annimmt. Wenn man sich den Graphen einer solchen Funktion als ein Gebirge über der Grundmenge vorstellt, so geht es also um die Gipfel und die Senken des Gebirges. Der folgende Satz liefert ein notwendiges Kriterium für die Existenz eines lokalen Extremums, das das entsprechende Kriterium ([[Reelle Funktion/Offenes Intervall/Lokales Extremum/Differenzierbar/Ableitung null/Fakt|Satz 19.1 ]]) in einer Variablen verallgemeinert.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum und eine offene Teilmenge. Es sei
eine Funktion, die im Punkt ein lokales Extremum besitzt. Dann gelten folgende Aussagen.
- Wenn in in Richtung
differenzierbar
ist, so ist
- Wenn in
total differenzierbar
ist, so verschwindet das totale Differential, also
(1) Zu betrachten wir die Funktion
wobei ein geeignetes reelles Intervall ist. Da die Funktion in ein lokales Extremum besitzt, besitzt die Funktion in ebenfalls ein lokales Extremum. Nach Voraussetzung ist differenzierbar und nach [[Reelle Funktion/Offenes Intervall/Lokales Extremum/Differenzierbar/Ableitung null/Fakt|Satz 19.1 ]] ist . Diese Ableitung stimmt aber mit der Richtungsableitung überein, also ist
(2) folgt aus (1) aufgrund von
[[Differenzierbarkeit/R/Totale Differenzierbarkeit impliziert richtungsweise Differenzierbarkeit/Fakt|Proposition 46.1 ]].
Ein lokales Extremum kann also nur in einem sogenannten kritischen Punkt einer Funktion auftreten.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, offen und
eine differenzierbare Funktion. Dann heißt ein kritischer Punkt von (oder ein stationärer Punkt), wenn
ist. Andernfalls spricht man von einem regulären Punkt.
Bei einer differenzierbaren Funktion ist genau dann ein kritischer Punkt, wenn sämtliche partiellen Ableitungen von in gleich sind.
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