Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2016-2017)/Teil II/Vorlesung 42



Lücken auf der Zahlengeraden

Eine wichtige Intuition, die sich mit den Punkten auf (der positiven Hälfte davon) dem Zahlenstrahl und mit positiven reellen Zahlen verbindet, ist, dass sie alle möglichen Längen repräsentieren. Wenn man eine bestimmte Länge als Einheitslänge fixiert (also eine auf dem Zahlenstrahl), so kann man jede natürliche Zahl durch das entsprechende Vielfache dieser Einheitsstrecke auf dem Strahl finden. Dies lässt sich durch mehrfaches Abtragen der Strecke realisieren. Auch eine rationale Zahl repräsentiert eine sinnvolle Länge, der Bruch repräsentiert diejenige Strecke, die die ganzzahlige Strecke in gleichlange Teile unterteilt. Diese Unterteilungspunkte kann man sich gut vorstellen, und sie lassen sich geometrisch unter Bezug auf die Strahlensätze auch konstruieren, wie zu Beginn der Vorlesung ausgeführt und auch in der Konstruktion der rationalen Zahlen dargestellt wurde.

Wir beschäftigen uns hier mit der Frage, ob es über die rationalen Zahlen hinaus sinnvolle Streckenlängen gibt. Gemäß Satz 28.7 kann man jedes Element eines archimedisch angeordneten Körpers (und damit die Punkte der Zahlengeraden) durch Dezimalbrüche (also insbesondere durch rationale Zahlen) beliebig gut approximieren. Wenn man also nur an so was wie der Messgenauigkeit für beliebige Streckenlängen interessiert ist, braucht man die folgenden Überlegungen nicht. Es wird sich aber herausstellen, dass sehr prägnante Strecken nicht durch rationale Zahlen exakt erfasst werden können, sondern dass man dazu neue Zahlen braucht.

Pythagoras von Samos lebte im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. „Sein“ Satz war aber schon tausend Jahre früher in Babylon bekannt.

Aus der elementaren Geometrie der Ebene ist der Satz des Pythagoras bekannt, der besagt, dass in einem rechtwinkligen Dreieck mit Hypotenusenlänge und den Kathetenlängen und die Gleichheit

gilt. Die Flächeninhalte der Quadrate zu den Katheten ergänzen sich also zum Flächeninhalt des Hypotenusenquadrates. Ein besonders bekanntes rechtwinkliges Dreieck ist das mit den ganzzahligen Seitenlängen . Man kann beliebige Seitenlängen vorgeben und diese miteinander rechtwinklig anordnen und erhält durch Verbindung der beiden anderen Enden ein rechtwinkliges Dreieck. Aufgrund des Satzes des Pythagoras ist dann die Länge der Hypotenuse (nicht nur geometrisch, sondern auch) rechnerisch festgelegt. Die Hypotenusenlänge sollte also, wenn und sinnvolle Streckenlängen sind, auch eine sinnvolle, mathematisch erfassbare Streckenlänge sein. Dies muss insbesondere für ganzzahlige gelten, für die Summe von zwei Quadratzahlen sollte es also stets eine Zahl geben, deren Quadrat gleich dieser Summe ist.



Wir betrachten ein Quadrat mit Seitenlänge . Die Diagonale darin kann man als Hypotenuse des in dem Quadrat zweifach liegenden rechtwinkligen Dreiecks auffassen. Nach dem Satz des Pythagoras hat die Länge der Diagonalen die Eigenschaft, dass ihr Quadrat davon gleich

ist. Inwiefern gibt es eine Zahl mit ? Dies ist keine einfache Frage. Was man ziemlich schnell begründen kann, ist, dass es innerhalb der rationalen Zahlen eine solche Zahl nicht geben kann! Wenn wir nämlich annehmen, dass die rationale Zahl

die Eigenschaft

besitzt, so kann man zunächst annehmen, dass die Darstellung gekürzt ist, also und keinen gemeinsamen Teiler haben. Durch Multiplikation mit erhält man innerhalb der natürlichen Zahlen die Gleichung

Nennen wir diese Zahl . Aufgrund der rechten Seite sieht man, dass diese Zahl gerade ist. Dann muss auch gerade sein, da das Quadrat einer ungeraden Zahl ungerade ist. Wir können also

schreiben und aus der Gleichung

einmal die kürzen, was

ergibt. Mit dem Argument von eben erhält man, dass auch gerade ist, im Widerspruch zur gekürzten Darstellung.


Wir führen die folgende Sprechweise ein, die wir hauptsächlich für Körper anwenden werden.


In einem kommutativen Halbring nennt man zu und einem Element ein Element mit

eine -te Wurzel von .

Im Allgemeinen gibt es keine Wurzeln, und wenn es welche gibt, so sind sie nicht eindeutig bestimmt. Im Kontext von Strecken und unter den positiven reellen Zahlen gibt es, wie wir später sehen werden, eindeutig bestimmte -te Wurzeln. Sie werden mit bezeichnet, wobei wir diese Bezeichnung gelegentlich schon verwenden werden. Eine weitere Bezeichnungsweise ist . Bei spricht man von Quadratwurzeln, in diesem Fall schreibt man .

Wenn man sich auf die positive Hälfte eines angeordneten Körpers beschränkt, so gibt es maximal eine Wurzel. Im Falle der Existenz bezieht sich die Bezeichnung

auf dieses eindeutig bestimmte Element.


Es sei ein angeordneter Körper und es sei . Ferner sei .

Dann gibt es höchstens ein mit

Dies folgt aus Lemma 25.17  (1). Wenn ist, so ist auch und somit können nicht beide gleich sein.


Verschiedene Wurzeln aus verschiedenen Elementen in einem angeordneten Körper kann man häufig einfach vergleichen, indem man zu einer geeigneten Potenz übergeht und Lemma 25.17 heranzieht. Beispielsweise ist

da

ist.

Eine weitgehende Verallgemeinerung der obigen Beobachtung, dass keine rationale Zahl ist, kommt im folgenden Satz zum Ausdruck.


Es sei die kanonische Primfaktorzerlegung der natürlichen Zahl . Es sei eine positive natürliche Zahl und sei vorausgesetzt, dass nicht alle Exponenten ein Vielfaches von sind. Dann gibt es keine rationale Zahl mit der Eigenschaft

d.h. innerhalb der rationalen Zahlen besitzt keine -te Wurzel.

Nehmen wir an, dass die rationale Zahl

die Eigenschaft

besitzt. Wir multiplizieren mit und erhalten in die Gleichung

Wegen Satz 21.4 besitzt diese Zahl, nennen wir sie , eine eindeutige Primfaktorzerlegung und insbesondere ist der - Exponent davon zu jeder Primzahl eindeutig bestimmt. Es sei eine Primzahl mit der Eigenschaft, dass der -Exponent von kein Vielfaches von ist, was es nach Voraussetzung geben muss. Von der rechten Seite der letzten Gleichung her ist der -Exponent von kein Vielfaches von , von der linken Seite her aber doch, was ein Widerspruch ist.

Diese Aussage bedeutet, dass eine natürliche Zahl innerhalb der rationalen Zahlen nur dann eine Wurzel besitzt, wenn sie schon innerhalb der natürlichen Zahlen eine Wurzel besitzt.

Die Spirale des Theodorus. In dieser Weise kann man alle Quadratwurzeln von natürlichen Zahlen geometrisch konstruieren.

Die Quadratwurzel aus tritt als Länge der Diagonalen in einem Quadrat mit Seitenlänge auf und ist von daher sicher eine sinnvolle Streckenlänge. Wie sieht es mit den anderen Quadratwurzeln zu natürlichen Zahlen aus? Wenn man die Diagonale im Quadrat mit Seitenlänge betrachtet, so besitzt die Diagonale die Seitenlänge . Diese Zahl entsteht also durch eine einfache arithmetische Operation aus den bekannten natürlichen Zahlen und der . Wenn man Rechtecke mit ganzzahligen Seitenlängen betrachtet, so erhält man als Diagonallängen beispielsweise (Seitenlängen und ), (Seitenlängen und ), (Seitenlängen und ), u.s.w. Man kann aber durch eine einfach geometrische Konstruktion induktiv zeigen, dass jede Quadratwurzel aus einer natürlichen Zahl als Strecke auftritt. Dazu startet man mit der Strecke und macht daraus die Kathete eines rechtwinkligen Dreiecks, dessen andere Kathete die Seitenlänge besitzt. Die Hypotenuse dieses Dreiecks hat dann die Länge

So kann man aus jedem auch die Länge erhalten. Diese Prozedur wird in der Spirale von Theodorus veranschaulicht.


Der goldene Schnitt kommt auch in der Natur vor, hier im Verhältnis der benachbarten Umläufe bei einer Schnecke.

Es sei eine Strecke mit den Endpunkten und gegeben. Ein Punkt auf der Strecke unterteilt die Strecke in zwei Teilstrecken. Wir suchen einen Punkt , der die Eigenschaft besitzt, dass das Verhältnis der großen Teilstrecke zur kleinen Teilstrecke mit dem Verhältnis der Gesamtstrecke zur großen Teilstrecke übereinstimmt. Diese Eigenschaft definiert den sogenannten goldenen Schnitt. Wenn man mit der Einheitsstrecke von bis auf der Zahlengeraden arbeitet, so geht es um die Bedingung

Diese Bedingung kann man zu

bzw.

umwandeln. Eine weitere Umformung führt auf

bzw.

also

Da irrational ist, ist auch die Zahl des Goldenen Schnitts irrational. Der Kehrwert dieser Zahl, also das Verhältnis von großer Strecke zu kleiner Strecke, ist übrigens

Es liegt also die Besonderheit vor, dass die Nachkommaziffern von und von übereinstimmen.


Die Beobachtung, dass eine Gleichung der Form

mit innerhalb der rationalen Zahlen im Allgemeinen keine Lösung besitzt, und dass man daher nach einer Erweiterung der Zahlen suchen sollte, in dem es eine Lösung gibt, sollte man in Analogie zu den Gleichungen sehen, die vorhergehende Zahlenbereichserweiterungen motiviert haben. Die Gleichungen der Form

die innerhalb der natürlichen Zahlen formulierbar, aber nicht lösbar sind, führten zur Zahlenbereichserweiterung von nach , und die Gleichungen der Form

die innerhalb der ganzen Zahlen formulierbar, aber nicht lösbar sind, führten zur Zahlenbereichserweiterung von nach .



Ein Kreis mit der Einheitsstrecke als Durchmesser (oder als Radius) hat einen bestimmten „Umfang“. Ist dieser Umfang eine sinnvolle Streckenlänge? Einerseits ist der Kreisbogen gekrümmt und nicht gerade, wie das Strecken sind, von daher ist es keineswegs selbstverständlich, dass der Umfang eine sinnvolle Streckenlänge sein soll. Andererseits ist aber die Vorstellung naheliegend, dass man den Kreis an einer Geraden (wie der Zahlengeraden) abrollen kann und dabei schauen kann, wohin man nach genau einer vollen Umdrehung gelangt. Die dadurch auf der Zahlengeraden markierte Zahl, also die Kreisbogenlänge, nennt man . (wenn man die Einheitsstrecke als Radius nimmt, erhält man beim Abrollen ). Dies ist eine sowohl von ihrer mathematischen Natur her als auch von der numerischen Berechnung her schwierige Zahl. Zum Beispiel ist es nicht einfach zu zeigen, dass diese Zahl nicht rational ist.



Wir betrachten die Standardparabel, also den Graphen der Funktion

wobei ein archimedisch angeordneter Körper ist. Kann man dem Ausschnitt des Graphen, der sich oberhalb des Einheitsintervalles von bis erstreckt, eine sinnvolle Länge[1] zuordnen? Wenn ja, gehört diese Zahl zu den rationalen Zahlen?


Nach Satz 28.7 führt jedes Element in einem archimedisch angeordneten Körper zu einer Dezimalbruchfolge, für die die Abschätzung

gilt und die nach Korollar 28.10 gegen konvergiert. Grundsätzlich kann man sich zu einer jeden Dezimalbruchfolge, also einer Folge aus Dezimalbrüchen

mit und mit der Eigenschaft

fragen, ob es dazu einen Punkt in dem Körper gibt, gegen den die Folge konvergiert. Dies ist keineswegs immer der Fall, für die rationalen Zahlen gilt es nicht, und zwar werden wir später in Satz 47.7 sehen, dass genau die periodischen Dezimalbruchfolgen gegen eine rationale Zahl konvergieren. Gibt es für die nichtperiodischen Dezimalbruchfolgen eine sinnvolle Interpretation als eine Zahl? Nichtperiodische Dezimalbruchfolgen können durchaus systematisch sein, wie die (in Kommazahlschreibweise gegebenen) Dezimalbruchfolgen

oder

verdeutlichen.


Die Frage, inwiefern es über die rationalen Zahlen hinaus weitere sinnvolle Zahlen gibt, geht in die griechische Antike zurück. Die Frage wurde in der Form gestellt, ob je zwei in natürlicher Weise gegebene Strecken zueinander kommensurabel sind, ob es also eine dritte Strecke gibt, von der beide Strecken ganzzahlige Vielfache sind. Die Pythagoreer waren von der Harmonie des Universums überzeugt und das schloss ihrer Auffassung nach mit ein, dass alle Streckenverhältnisse durch ganze Zahlen ausgedrückt werden können. Solche ganzzahligen Beziehungen fanden sie in der Musik (Schwingungsverhältnisse) und vermuteten sie für die Planeten und ihre Bewegungen und für die gesamte Geometrie. Es wird darüber spekuliert, ob in den pythagoreischen Kreisen die in Beispiel 42.2 besprochene Überlegung, die die Irrationalität der begründet (die Inkommensurabilität von Seitenlänge und Diagonale in einem Quadrat), bekannt war und sogar geheimgehalten wurde. Jedenfalls setzte sich später in der Antike die Erkenntnis durch, dass es irrationale Zahlen geben muss.


Wie in Beispiel 22.7 erwähnt, sind die Schwingungsverhältnisse bei einer Tonart feste rationale Verhältnisse. Ein Klavier wird allerdings anders gestimmt, rationale Verhältnisse gelten also noch nicht einmal in der Musik.


In der gleichstufigen Stimmung eines Klaviers zerlegt man eine Oktave in zwölf gleichgroße Frequenzverhältnisse. Da eine Oktave das Frequenzverhältnis bedeutet, ist das Frequenzverhältnis von zwei benachbarten (weißen oder schwarzen) Tasten durch gegeben. Somit sind die Schwingungsverhältnisse zwischen den Tönen im Allgemeinen irrational. Der Vorteil bei dieser Stimmung ist, dass man jede Tonart auf dem Klavier mit unmerklichen Abweichungen von den harmonischen rationalen Verhältnissen spielen kann.




Lücken schließen

Wie kann man die irrationalen Lücken auf der Zahlengeraden in sinnvoller Weise adressieren bzw. lokalisieren und letztlich schließen? Mit diesen Fragen werden wir uns n den nächsten Vorlesungen beschäftigen.



Fußnoten
  1. Dies wird unter dem Stichwort Kurvenlängen behandelt und gehört zur Integrationstheorie, siehe Beispiel 38.11 (Analysis (Osnabrück 2014-2016)).


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