Kurs:Grundkurs Mathematik (Osnabrück 2018-2019)/Teil II/Vorlesung 45



Cauchy-Folgen

Ein Problem des Konvergenzbegriffes ist, dass zur Formulierung der Grenzwert verwendet wird, den man unter Umständen noch gar nicht kennt. Wenn man beispielsweise die durch das babylonische Wurzelziehen konstruierte Folge (sagen wir zur Berechnung von ) mit einem rationalen Startwert betrachtet, so ist dies eine Folge aus rationalen Zahlen. Wenn wir diese Folge in betrachten, wo existiert, so ist die Folge konvergent. Innerhalb der rationalen Zahlen ist sie aber definitiv nicht konvergent. Es ist wünschenswert, allein innerhalb der rationalen Zahlen den Sachverhalt formulieren zu können, dass die Folgenglieder beliebig nahe zusammenrücken, auch wenn man nicht sagen kann, dass die Folgenglieder einem Grenzwert beliebig nahe zustreben. Dazu dient der Begriff der Cauchy-Folge.

Wir werden in der nächsten Vorlesung die reellen Zahlen mit Hilfe der rationalen Cauchy-Folgen konstruieren.


Es sei ein angeordneter Körper. Eine Folge in heißt Cauchy-Folge, wenn folgende Bedingung erfüllt ist.

Zu jedem , , gibt es ein derart, dass für alle die Abschätzung

gilt.

Es werden also die Abstände von Folgenglieder untereinander verglichen, diese Schwankungen müssen beliebig klein werden. Grob gesprochen kann man sagen, dass eine Cauchy-Folge alle Eigenschaften einer konvergenten Folge besitzt bis auf die Konvergenz, bis auf die Existenz eines Grenzwertes. Eine nichtkonvergente Cauchy-Folge entdeckt eine „Lücke“. Beim Übergang von nach schließt man diese Lücken, indem man (Äquivalenzklassen von) Cauchy-Folgen hinzunimmt.



Es sei ein angeordneter Körper. Dann ist jede konvergente Folge

eine Cauchy-Folge.

Es sei die konvergente Folge mit Grenzwert . Sei gegeben. Wir wenden die Konvergenzeigenschaft auf an. Daher gibt es ein mit

Für beliebige gilt dann aufgrund der Dreiecksungleichung

  Also liegt eine Cauchy-Folge vor.



Es sei ein angeordneter Körper. Dann ist eine Folge genau dann eine Cauchy-Folge, wenn folgende Bedingung gilt: Zu jedem gibt es ein derart, dass für alle die Abschätzung gilt.

Eine Cauchy-Folge erfüllt auch die angegebene Bedingung, da man ja setzen kann.
Für die Umkehrung sei vorgegeben. Die Bedingung der Aussage gilt insbesondere für , d.h. es gibt ein derart, dass für jedes die Abschätzung

gilt. Damit gilt aufgrund der Dreiecksungleichung für beliebige die Abschätzung

sodass eine Cauchy-Folge vorliegt.



Eine Dezimalbruchfolge

in einem

archimedisch angeordneten Körper

ist eine Cauchy-Folge.

Wegen der definierenden Eigenschaft für eine Dezimalbruchfolge

ist

bzw.

Somit gilt für die Abschätzung

wobei wir im letzten Schritt die endliche geometrische Reihe benutzt haben. Dieser Ausdruck wird in einem archimedisch angeordneten Körper beliebig klein.

Dies bedeutet insbesondere, dass jede „Kommazahl“, also jede „unendliche Ziffernfolge“, eine Cauchy-Folge ist.



Es sei ein archimedisch angeordneter Körper und . Es sei ein positiver Startwert und die zugehörige Heron-Folge. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Die Heron-Folge ist eine Cauchy-Folge.
  2. Wenn es in ein positives Element mit gibt, so konvergiert die Folge gegen dieses Element.
  3. Wenn die Folge in gegen ein Element konvergiert, so ist .
  1. Zu ist nach Satz 43.7  (3) und somit ist

    Diese Intervalllängen bilden nach Satz 43.7  (4) eine Nullfolge.

  2. Nach Satz 43.7  (1) ist

    Somit ist

    und rechts steht wieder die Nullfolge. Die Aussage folgt daher aus dem Quetschkriterium.

  3. Nach Satz 43.7 kann der Grenzwert nicht sein. Nach Lemma 44.12  (5) konvergiert daher gegen und somit konvergiert nach Lemma 44.12  (1)

    (Betrachten der beiden Seiten) gegen

    Daraus ergibt sich .



Es sei ein angeordneter Körper und sei eine Folge in . Zu jeder streng wachsenden Abbildung , , heißt die Folge

eine Teilfolge der Folge.

Bei einer Teilfolge wählt man einfach gewisse Folgenglieder aus und überspringt andere.

Eine Dezimalbruchfolge ist nach Lemma 45.4 eine Cauchy-Folge. Sie ist auch eine wachsende Folge, die nach oben beschränkt ist. Solche Folgen sind stets Cauchy-Folgen. Insbesondere ergibt sich Lemma 45.4 erneut aus dem folgenden Lemma.


Es sei ein archimedisch angeordneter Körper. Es sei eine wachsende, nach oben beschränkte Folge.

Dann ist eine Cauchy-Folge.

Es sei eine obere Schranke, also für alle Folgenglieder .  Wir nehmen an, dass keine Cauchy-Folge ist, und verwenden die Charakterisierung aus Lemma 45.3. Somit gibt es ein derart, dass es für jedes ein mit gibt (wir können die Betragstriche wegen der Monotonie weglassen). Wir können daher induktiv eine wachsende Folge von natürlichen Zahlen definieren durch ,

etc. Andererseits gibt es aufgrund des Archimedesaxioms ein mit . Die Summe der ersten Differenzen der Teilfolge , , ergibt

  Dies impliziert im Widerspruch zur Voraussetzung, dass eine obere Schranke der Folge ist.



Eine Cauchy-Folge in einem angeordneten Körper

ist beschränkt.

Beweis

Siehe Aufgabe 45.11.



Es sei ein angeordneter Körper. Es seien und Cauchy-Folgen in .

Dann sind auch die Summe und das Produkt der beiden Folgen wieder eine Cauchy-Folge.

Zum Beweis der Summeneigenschaft sei vorgegeben. Aufgrund der Cauchy-Eigenschaft gibt es natürliche Zahlen und mit

Diese Abschätzungen gelten dann auch für

Für diese Indizes gilt somit

Zum Beweis der Produkteigenschaft sei vorgegeben. Die beiden Cauchy-Folgen sind nach Lemma 45.8 insbesondere beschränkt und daher existiert ein mit

für alle . Aufgrund der Cauchy-Eigenschaft gibt es natürliche Zahlen und mit

Diese Abschätzungen gelten dann auch für . Für diese Indizes gilt daher


Wenn eine Folge in konvergiert, so ist der Grenzwert oder positiv oder negativ. Wenn der Grenzwert positiv ist, so können zwar am Anfang der Folge auch negative Folgeglieder auftreten, ab einem bestimmten müssen aber alle Folgenglieder positiv sein, und zwar mindestens so groß wie die Hälfte des Grenzwertes. Eine entsprechende Einteilung gilt auch für Cauchy-Folgen, wie das folgende Lemma zeigt, das grundlegend für die (später einzuführende) Ordnung auf den reellen Zahlen ist.


Es sei ein angeordneter Körper und es sei eine Cauchy-Folge in . Dann gibt es die drei folgenden Alternativen.

  1. Die Folge ist eine Nullfolge.
  2. Es gibt eine positive Zahl derart, dass ab einem gewissen die Abschätzung

    für alle gilt.

  3. Es gibt eine positive Zahl derart, dass ab einem gewissen die Abschätzung

    für alle gilt.

Es sei die Folge keine Nullfolge. Dann gibt es ein derart, dass es unendlich viele Folgenglieder mit

gibt. Dann gibt es auch unendlich viele Folgenglieder mit

oder mit

Nehmen wir das erste an. Wegen der Cauchy-Eigenschaft für gibt es ein derart, dass

für alle gilt. Wenn man die beiden Aussagen verbindet, so gilt für und einem mit

unter Verwendung von Lemma 24.7  (8) die Abschätzung

Dieses wählen wir als .



Es sei eine Cauchy-Folge in einem angeordneten Körper mit der Eigenschaft, dass es ein und ein derart gibt, dass für alle die Abschätzung

gilt.

Dann ist auch die durch (für hinreichend groß)

gegebene inverse Folge eine Cauchy-Folge.

Sei vorgegeben. Wegen der Cauchy-Eigenschaft von gibt es ein mit

für alle . Dann gilt für alle die Abschätzung



Das Vollständigkeitsaxiom

Ein angeordneter Körper heißt vollständig oder vollständig angeordnet, wenn jede Cauchy-Folge in konvergiert (also in einen Grenzwert besitzt).


Die reellen Zahlen sind ein vollständiger archimedisch angeordneter Körper.

Damit haben wir alle Axiome der reellen Zahlen zusammengetragen: die Körperaxiome, die Anordnungsaxiome und das Vollständigkeitsaxiom. Alle weiteren Eigenschaften werden wir daraus ableiten. Diese Eigenschaften legen die reellen Zahlen eindeutig fest, d.h. wenn es zwei Modelle und gibt, die beide für sich genommen diese Axiome erfüllen, so kann man eine bijektive Abbildung von nach angeben, die alle mathematischen Strukturen erhält (sowas nennt man einen „Isomorphismus“, siehe Satz 47.1).

Die Existenz der reellen Zahlen ist nicht trivial. Vom naiven Standpunkt her kann man die Vorstellung einer „kontinuierlichen lückenfreien Zahlengerade“ zugrunde legen, und dies als Existenznachweis akzeptieren. In einer strengeren mengentheoretischen Begründung der Existenz geht man von aus und konstruiert die reellen Zahlen als die Menge der Cauchy-Folgen in mit einer geeigneten Identifizierung. Dies werden wir in der nächsten Vorlesung durchführen.


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