Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2011-2012)/Teil I/Vorlesung 30/kontrolle
- Gewöhnliche Differentialgleichungen mit getrennten Variablen
Eine Differentialgleichung der Form
mit zwei Funktionen (dabei sind und reelle Intervalle)
und
heißt gewöhnliche Differentialgleichung mit getrennten Variablen.
Eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen ist auf der Produktmenge definiert. Eine homogene lineare Differentialgleichung besitzt offenbar getrennte Variablen (mit ), dagegen besitzt eine inhomogene lineare Differentialgleichung im Allgemeinen keine getrennten Variablen. Die Differentialgleichungen mit getrennten Variablen lassen sich durch Integrieren lösen. Wenn ist, so bestätigt man direkt die konstante Lösung . Daher beschränken wir uns im Folgenden auf die Situation, dass keine Nullstelle besitzt. Die Grundidee ist dann, in der Gleichung
die beiden Seiten zu integrieren, wobei man links die Substitutionsregel anwendet.
Es sei
eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen mit stetigen Funktionen
und
wobei keine Nullstelle besitze. Es sei eine Stammfunktion von und eine Stammfunktion von . Weiter sei ein Teilintervall mit .
Dann ist eine bijektive Funktion auf sein Bild und die Lösungen dieser Differentialgleichung haben die Form
Wenn zusätzlich die Anfangsbedingung
gegeben ist, und wenn die Stammfunktionen die zusätzlichen Eigenschaften und erfüllen, so ist
die eindeutige Lösung des Anfangswertproblems.
Da stetig ist und keine Nullstelle besitzt, ist bzw.
nach dem Zwischenwertsatz
entweder stets positiv oder stets negativ, sodass
nach Satz 20.7
streng monoton
und daher
nach Aufgabe 4.21
injektiv
(also bijektiv auf sein Bild)
ist.
Sei
wie angegeben. Dann ist nach
Satz 19.8
und
Satz 19.9
sodass in der Tat eine Lösung vorliegt.
Es sei nun eine differenzierbare Funktion, die die Differentialgleichung erfüllt. Daraus folgt
wobei wir die
Substitution
angewendet haben. Für die zugehörigen Stammfunktionen
(mit den unteren Integralgrenzen
bzw. )
bedeutet dies
,
also ist
.
Um die Anfangsbedingung zu erfüllen, kann man
bzw.
als untere Integralgrenzen wählen. Wir zeigen, dass dies die einzige Lösung ist. Es seien also
und
zwei Stammfunktionen zu und
und
zwei Stammfunktionen zu derart, dass sowohl
als auch
die Anfangsbedingung erfüllen. D.h. die beiden Funktionen stimmen zum Zeitpunkt überein. Da sich Stammfunktionen nur um eine Konstante unterscheiden, können wir
und
mit zwei Konstanten
ansetzen. Es gilt also einerseits
und andererseits
,
sodass
gilt, woraus wegen
sofort
folgt. Also ist
und somit wegen der Injektivität von auch
für alle .
Wegen
(wende an) genügt es, bei der Stammfunktion zu eine Konstante zuzulassen, um die allgemeine Lösung zu erhalten. Durch einen Übergang von nach mit einer geeigneten Konstanten kann man auch erreichen, dass es ein (echtes) Intervall gibt mit
Sowohl orts- als auch zeitunabhängige Differentialgleichungen kann man als Differentialgleichung mit getrennten Variablen auffassen. Für zeitunabhängige Differentialgleichungen erhält man den folgenden Lösungsansatz.
Es sei
eine zeitunabhängige Differentialgleichung mit einer
stetigen Funktionohne Nullstelle. Es sei eine Stammfunktion von mit der Umkehrfunktion
Dann sind die Funktionen
die Lösungen dieser Differentialgleichung auf dem Intervall[1] .
Dies folgt direkt aus Satz 30.2.
Wenn im zeitunabhängigen Fall die Funktion Nullstellen besitzt, so muss man zuerst diese und die zugehörigen konstanten Lösungen bestimmen und dann den vorstehenden Satz auf die nullstellenfreien Teilintervalle des Definitionsbereiches anwenden.
Wir betrachten die zeitunabhängige Differentialgleichung
für . Es ist also und damit müssen wir nach Korollar 30.3 integrieren, eine Stammfunktion dazu ist
Die Umkehrfunktion berechnet sich aus dem Ansatz zu . Also haben die Lösungskurven die Gestalt
mit .
Wir betrachten die zeitunabhängige Differentialgleichung
für . Nach Korollar 30.3 müssen wir also integrieren, eine Stammfunktion dazu ist nach Beispiel 35.5 (Mathematik (Osnabrück 2009-2011)) die Funktion
Die Umkehrfunktion berechnet sich über zu
Also haben die Lösungskurven die Gestalt
mit einem .
Nach diesen zeitunabhängigen Differentialgleichungen besprechen wir weitere Beispiele für Differentialgleichungen mit getrennten Variablen.
Eine Differentialgleichung der Form
und einer stetigen Funktion
besitzt auf die Lösungen
wobei eine Stammfunktion zu mit sei.
Beweis
Wir betrachten die Differentialgleichung mit getrennten Variablen
für
. Eine Stammfunktion zu ist ( ist also negativ) mit der Umkehrfunktion
Die Stammfunktionen zu sind . Daher sind die Lösungen der Differentialgleichung von der Form
Hierbei muss negativ gewählt werden, damit diese Lösung einen nichtleeren Definitionsbereich besitzt. Der Definitionsbereich ist dann das Intervall . Insbesondere sind die Lösungen nur auf einem beschränkten offenen Intervall definiert, obwohl die Differentialgleichung auf ganz definiert ist. An den Intervallgrenzen strebt gegen , d. h., die Lösung „entweicht“.
Wir betrachten die Differentialgleichung mit getrennten Variablen
für . Eine Stammfunktion zu ist ( ist also negativ) mit der Umkehrfunktion
Die Stammfunktionen zu sind . Daher sind die Lösungen der Differentialgleichung von der Form
Insbesondere erhält man bei die auf definierte Lösung
Es sei die Größe einer Population zu einem Zeitpunkt . Wie setzen voraus, dass die Populationsentwicklung differenzierbar ist; die Ableitung repräsentiert dann das (infinitesimale) Bevölkerungswachstum zum Zeitpunkt . Den Quotienten
nennt man die Wachstumsrate zum Zeitpunkt . Wir fragen uns, inwiefern man den Populationsverlauf aus der Wachstumsrate rekonstruieren kann. Die Wachstumsrate kann von der Zeit (Jahreszeit, Nahrungsvorkommen, Entwicklung von anderen Populationen etc.) abhängen, aber auch von der aktuellen Populationsgröße . Die Zeitabhängigkeit der Wachstumsrate beruht auf äußeren Einflüssen, während die Abhängigkeit von der aktuellen Populationsgröße eine innere Dynamik ausdrückt. Sie beruht darauf, dass eine große Population sich hemmend auf die Fortpflanzung auswirkt.
Wir beschränken uns auf eine Situation, wo die Wachstumsrate nur von der Populationsgröße abhängt, nicht aber von sonstigen Einflüssen. Dann wird die Wachstumsrate durch eine Funktion beschrieben, und die Wachstumsrate zum Zeitpunkt ist demnach durch gegeben. Die Wachstumsrate wirkt sich auf die Populationsentwicklung aus. Gemäß dem oben formulierten Zusammenhang gilt
Es liegt also eine Differentialgleichung der Form
vor, die zeitunabhängig ist, sodass insbesondere getrennte Variablen vorliegen (mit der Funktion ). Bei konstanter Wachstumsrate
liegt die Differentialgleichung vor, deren Lösungen die Funktionen sind. Das bedeutet exponentielles Wachstum.
Wenn wir die Wachstumsrate so ansetzen, dass es bei einer gewissen Populationsgröße kein Wachstum mehr gibt, und bei sehr kleiner Bevölkerung die Wachstumsrate maximal gleich ist, und dazwischen die Wachstumsrate linear von abhängt, so erhält man die Wachstumsrate
und die Differentialgleichung
Eine solche Differentialgleichung nennt man logistische Differentialgleichung. Gemäß dem Lösungsansatz für Differentialgleichungen mit getrennten Variablen müssen wir eine Stammfunktion zu
finden. Eine solche Stammfunktion ist
Zur Berechnung der Umkehrfunktion lösen wir die Gleichung
nach auf. Es ergibt sich
und daraus
und damit
Da die Differentialgleichung zeitunabhängig ist, ist
eine Lösung. Bei ist , für strebt die Lösung gegen (die Grenzbevölkerung) und für gegen .
- Fußnoten
- ↑ Mit ist das um verschobene Intervall gemeint. Es ist also . Bei ist also , bei ist .
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