Kurs:Analysis (Osnabrück 2013-2015)/Teil II/Vorlesung 38/kontrolle
- Die Mittelwertabschätzung für differenzierbare Kurven
Wenn ist, so ist die Aussage trivialerweise richtig. Es sei also . Dann ist nach dem Schmidtschen Orthonormalisierungsverfahren Teil einer Orthonormalbasis von . Es seien die Komponentenfunktionen von bezüglich dieser Basis. Wir wenden den Mittelwertsatz für eine Variable auf die erste Komponentenfunktion an. Es gibt also ein mit der Eigenschaft
und damit auch
Da man die Längenmessung mit jeder Orthonormalbasis durchführen kann, gilt
Wir betrachten die trigonometrische Parametrisierung des Einheitskreises, also die Abbildung
Diese Abbildung ist für jedes differenzierbar mit der Ableitung
Die Norm dieser Ableitung ist zu jedem Zeitpunkt gleich
Wählen wir das Intervall , so ist
Dies bedeutet, dass in der Mittelwertabschätzung nicht Gleichheit gelten kann.
- Länge von Kurven
Wir arbeiten im , versehen mit der euklidischen Metrik. Zu einer Kurve
die wir uns als einen von der Zeit abhängigen Bewegungsvorgang im Raum vorstellen, wollen wir die Länge der Kurve definieren. Die Länge soll dabei den insgesamt zurückgelegten Weg beschreiben, nicht die Länge der zurückgelassenen Spur oder den Abstand von Start- und Zielpunkt.
Es sei ein kompaktes Intervall und
eine Abbildung. Zu einer Unterteilung
nennt man
den zugehörigen Streckenzug.
Dabei sollte man sich die Unterteilung als eine Zeiteinteilung vorstellen und die Punkte als die zugehörigen Ortspunkte der durch beschriebenen Bewegung im . Strenggenommen ist der Streckenzug einfach die geordnete Folge der Punkte, es ist aber suggestiver, sich darunter die stückweise lineare Verbindung dieser Punkte vorzustellen.
Zu einer Punktfolge
nennt man
die Gesamtlänge des Streckenzugs .
Definition Definition 38.5 ändern
Es sei ein kompaktes Intervall und
eine Abbildung. Dann nennt man
die Kurvenlänge von . Wenn endlich ist, so heißt die Kurve rektifizierbar.
Man nimmt hier also das Supremum über alle möglichen Unterteilungen des Definitionsintervalls. Ohne zusätzliche Eigenschaften der Kurve kann man nicht erwarten, dass man die Kurvenlänge effektiv bestimmen kann. Wenn die Kurve aber stetig differenzierbar ist, so lässt sich die Länge über ein Integral berechnen, wie die folgende Aussage zeigt. Inhaltlich gesprochen bedeutet sie, dass wenn sich beispielsweise ein Fahrzeug in der Ebene bewegt, man die Gesamtlänge der zurückgelegten Strecke kennt, sobald man nur zu jedem Zeitpunkt die momentane Geschwindigkeit (und zwar lediglich ihre Norm, die Richtung muss man nicht kennen) kennt. Die Länge ist dann das Integral über die Norm der Geschwindigkeit.
Es sei ein kompaktes Intervall und
eine stetig differenzierbare Abbildung.
Dann ist rektifizierbar und für die Kurvenlänge gilt
Da die Norm stetig ist, existiert nach Satz 24.3 das rechte Integral, und zwar ist es gleich dem Infimum über alle Treppenintegrale zu oberen Treppenfunktionen der Funktion . Diese Treppenintegrale werden zu einer Unterteilung durch mit gegeben. Andererseits steht nach der Definition der Kurvenlänge links das Supremum über die zu einer solchen Unterteilung gehörigen Summen
Aufgrund der Mittelwertabschätzung gilt
Durch Aufsummieren ergibt sich daher die Abschätzung
Hierbei müssen wir links das Supremum und rechts das Infimum über alle Unterteilungen nehmen. Nehmen wir an, dass das Supremum der linken Seite größer als das Infimum der rechten Seite ist. Dann gibt es eine Unterteilung derart, dass die Längensumme links zu dieser Unterteilung mindestens gleich , und eine Unterteilung derart, dass das Treppenintegral rechts höchstens gleich ist. Wir können zur gemeinsamen Verfeinerung übergehen und annehmen, dass es sich um die gleiche Unterteilung handelt, und erhalten einen Widerspruch. Das Supremum der linken Seite ist also durch das Infimum der rechten Seite beschränkt. D.h. die Kurve ist rektifizierbar und es gilt
Diese Beziehung gilt auch für jedes beliebige Teilintervall . Es sei die Länge der auf definierten Kurve. Es genügt dann zu zeigen, dass diese Funktion nach ableitbar und eine Stammfunktion zu ist. Für den zugehörigen Differenzenquotienten in einem Punkt gelten die Abschätzungen ()
Für konvergieren die beiden äußeren Seiten gegen , sodass auch der Differenzenquotient dagegen konvergieren muss.
Die Rektifizierbarkeit ist schon in einer Variablen ein interessanter Begriff. Es lässt sich sogar die Rektifizierbarkeit darauf zurückführen. Dies bedeutet aber nicht, dass man die Berechnung der Kurvenlänge auf die Berechnung der Kurvenlängen der einzelnen Komponenten zurückführen könnte.
Es sei ein kompaktes Intervall und
eine Abbildung.
Dann ist genau dann rektifizierbar, wenn sämtliche Komponentenfunktionen rektifizierbar sind.
Beweis
Die Rektifizierbarkeit ist schon für Funktionen
ein nicht-trivialer Begriff, siehe Beispiel 38.9. Wenn allerdings wachsend (oder fallend) ist, so lässt sich die Länge einfach ausrechnen. Zu einer beliebigen Unterteilung ist dann nämlich
d.h. die Länge ist einfach die Differenz der Werte an den Randpunkten des Intervalls. Insbesondere existiert die Länge, d.h. monotone Funktionen sind rektifizierbar. Wenn wachsend ist und stetig differenzierbar, so ergibt sich dies natürlich auch aus Satz 38.6 und aus Korollar 24.7. Wenn allerdings nicht monoton ist, so müssen bei der Längenberechnung auch die Richtungsänderungen mitberücksichtigt werden. Für das Integral gibt es dann keine direkte Berechnung, da das Vorzeichen ändert. Man kann aber das Intervall in (eventuell unendlich viele) Abschnitte unterteilen, wo die Funktion wachsend oder fallend, bzw. wo die Ableitung positiv oder negativ ist, und dann abschnittsweise die Länge berechnen.
Die Funktion
ist stetig nach Aufgabe 12.4, aber nicht rektifizierbar. Für jedes ist , wobei das Vorzeichen davon abhängt, ob gerade oder ungerade ist. Für jedes ist daher . Wählt man dann die Unterteilungspunkte
so ist die Länge des zugehörigen Streckenzugs mindestens gleich
Wegen der Divergenz der harmonischen Reihe ist dieser Ausdruck für nicht beschränkt. Daher kann das Supremum über alle Streckenzüge nicht existieren und die Kurve ist nicht rektifizierbar.
Mit der Länge des Graphen ist die Länge der durch definierten Kurve gemeint. Die Ableitung dieser Kurve ist . Daher ist die Länge dieser Kurve nach Satz 38.6 gleich
Wir wollen die Länge der Standardparabel berechnen, also die Länge der durch
gegebenen Kurve. Nach Korollar 38.10 ist die Länge von nach unter Verwendung von Lemma 27.7 gleich
Wir berechnen nun die Länge des Kreisbogens auf zwei verschiedene Arten.
Wir betrachten die Funktion
die die obere Kreislinie des Einheitskreises beschreibt. Wir wollen die Länge dieses Graphen bestimmen. Es ist
wobei diese Gleichheit nur im Innern Sinn ergibt, in den Randpunkten ist die Funktion nicht differenzierbar. Dennoch kann man hier Satz 38.6 zunächst im Innern anwenden und anschließend einen Grenzübergang durchführen. Es geht somit um das Integral von
Die Stammfunktion davon ist gemäß Lemma 27.7. Daher ist
Wir betrachten die trigonometrische Parametrisierung des Einheitskreises, also die Abbildung
Die Ableitung davon ist
Daher ist die Kurvenlänge eines von bis durchlaufenen Teilstückes nach Satz 38.6 gleich
Aufgrund der Periodizität der trigonometrischen Funktionen wird der Einheitskreis von bis genau einmal durchlaufen. Die Länge des Kreisbogens ist daher .
Es sei ein Punkt auf der Peripherie eines Kreises mit Radius fixiert (beispielsweise ein Ventil). Die Zykloide ist diejenige Kurve, die der Punkt beschreibt, wenn der Kreis sich gleichmäßig auf einer Geraden (der -Achse) abrollt, wie wenn ein Rad auf der Straße fährt. Wenn den Winkel bzw. die abgerollte Strecke repräsentiert, und der Punkt sich zum Zeitpunkt in befindet, so wird die Bewegung des Ventils durch
beschrieben.
Nach einer Volldrehung befindet sich das Ventil wieder in seiner Ausgangsposition am Rad, aber verschoben um . Die Ableitung dieser Kurve ist
Die Länge der Zykloide (also die Länge des vom Ventil beschriebenen Weges) ist nach Satz 38.6 im Zeitintervall von nach gleich
wobei die letzte Umformung für gilt. Für ist dies gleich .