Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil I/Vorlesung 18

In den folgenden Vorlesungen beschäftigen wir uns mit der Integrationstheorie, d.h. wir wollen den Flächeninhalt derjenigen Fläche, die durch einen Funktionsgraphen einer Funktion (dem Integranden)

und der -Achse begrenzt wird, systematisch studieren und berechnen. Zugleich ergibt sich ein direkter Zusammenhang zum Auffinden von Stammfunktionen von , das sind Funktionen, deren Ableitung ist. Der Flächeninhalt ist kein unproblematischer Begriff, der erst im Rahmen der Maßtheorie grundlegend behandelt wird. Dennoch handelt es sich um einen intuitiv leicht zugänglichen Begriff, von dem wir hier nur einige wenige naheliegende Grundtatsachen verwenden. Sie dienen hier auch nirgendwo der Argumentation, sondern lediglich der Motivation. Ausgangspunkt ist, dass der Flächeninhalt eines Rechtecks mit gegebenen Seitenlängen einfach das Produkt der beiden Seitenlängen ist, und dass der Flächeninhalt einer Fläche, die man mit Rechtecken „ausschöpfen“ kann, als der Limes der Summe der beteiligten Rechtecksinhalte erhalten werden kann. Beim Riemannschen Integral, das zumindest für stetige Funktionen eine befriedigende Theorie liefert, beschränkt man sich auf solche Rechtecke, die parallel zum Koordinatensystem liegen, deren Breite (Grundseite auf der -Achse) beliebig variieren darf und deren Höhe in Beziehung zu den Funktionswerten über der Grundseite steht. Dadurch werden die Funktionen durch sogenannte Treppenfunktionen approximiert.



Treppenfunktionen
Eine Treppenfunktion. Im statistischen Kontext spricht man von Histogrammen oder von Säulendiagrammen.



Es sei ein reelles Intervall mit den Grenzen . Dann heißt eine Funktion

eine Treppenfunktion, wenn es eine Unterteilung

von derart gibt, dass auf jedem offenen Teilintervall konstant ist.

Diese Definition stellt also keine Bedingung an den Wert der Funktion an den Unterteilungspunkten. Das Intervall nennt man -tes Teilintervall, und heißt Länge dieses Teilintervalls. Wenn die Länge der Teilintervalle konstant ist, so spricht man von einer äquidistanten Unterteilung.


Es sei ein reelles Intervall mit den Grenzen und sei

eine Treppenfunktion zur Unterteilung und den Werten , . Dann heißt

das Treppenintegral von auf .

Das Treppenintegral wird auch mit bezeichnet. Bei einer äquidistanten Unterteilung mit der Teilintervalllänge ist das Treppenintegral gleich . Das Treppenintegral ist nicht von der gewählten Unterteilung abhängig, bezüglich der eine Treppenfunktion vorliegt (man kann also die Unterteilung verfeinern).


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt eine Treppenfunktion

eine obere Treppenfunktion zu , wenn [1] für alle ist. Eine Treppenfunktion

heißt eine untere Treppenfunktion zu , wenn für alle ist.

Eine obere (untere) Treppenfunktion zu gibt es genau dann, wenn nach oben (nach unten) beschränkt ist.


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Zu jeder oberen Treppenfunktion

von zur Unterteilung , , und den Werten , , heißt das Treppenintegral

ein oberes Treppenintegral (oder eine Obersumme) von auf .


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Zu jeder unteren Treppenfunktion

von zur Unterteilung , , und den Werten , , heißt

ein unteres Treppenintegral (oder eine Untersumme) von auf .

Verschiedene obere (untere) Treppenfunktionen liefern natürlich verschiedene obere (und untere) Treppenintegralge.Für die weiteren Integrationskonzepte brauchen wir zwei Begriffe, die sich auf beliebige reelle Teilmengen beziehen.


Zu einer nichtleeren Teilmenge heißt eine obere Schranke von das Supremum von , wenn für alle oberen Schranken von gilt.


Zu einer nichtleeren Teilmenge heißt eine untere Schranke von das Infimum von , wenn für alle unteren Schranken von gilt.

Die Existenz von Infimum und Supremum ergibt sich aus der Vollständigkeit der reellen Zahlen.


Jede nichtleere nach oben beschränkte Teilmenge der reellen Zahlen

besitzt ein Supremum in .


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine nach oben beschränkte Funktion. Dann heißt das Infimum von sämtlichen Treppenintegralen zu oberen Treppenfunktionen von das Oberintegral von .


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine nach unten beschränkte Funktion. Dann heißt das Supremum von sämtlichen Treppenintegralen zu unteren Treppenfunktionen von das Unterintegral von .

Die Beschränkung nach unten stellt sicher, dass es überhaupt eine untere Treppenfunktion gibt und damit die Menge der unteren Treppenintegrale nicht leer ist. Unter dieser Bedingung allein muss nicht unbedingt die Menge der unteren Treppenintegrale ein Supremum besitzen. Für (beidseitig) beschränkte Funktionen existiert hingegen stets das Ober- und das Unterintegral. Bei einer gegebenen Unterteilung gibt es eine kleinste obere (größte untere) Treppenfunktion, die durch die Suprema (Infima) der Funktion auf den Teilintervallen festgelegt ist. Bei stetigen Funktionen auf abgeschlossenen Intervallen sind das Maxima bzw. Minima. Für das Integral muss man aber Treppenfunktionen zu sämtlichen Unterteilungen berücksichtigen.



Riemann-integrierbare Funktionen

Im Folgenden sprechen wir manchmal von einem kompakten Intervall, das ist ein beschränktes und abgeschlossenes Intervall, also von der Form mit .

Eine untere und eine obere Treppenfunktion. Der grüne Flächeninhalt ist eine Untersumme und der gelbe Flächeninhalt (teilweise verdeckt) ist eine Obersumme.

Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt Riemann-integrierbar, wenn Ober- und Unterintegral von existieren und übereinstimmen.

Historisch korrekter ist es, von Darboux-integrierbar zu sprechen.


Es sei ein kompaktes Intervall. Zu einer Riemann-integrierbaren Funktion

heißt das Oberintegral (das nach Definition mit dem Unterintegral übereinstimmt) das bestimmte Integral von über . Es wird mit

bezeichnet.

Das Berechnen von solchen Integralen nennt man integrieren. Man sollte sich keine allzu großen Gedanken über das Symbol machen. Darin wird ausgedrückt, bezüglich welcher Variablen die Funktion zu integrieren ist. Es kommt dabei aber nicht auf den Namen der Variablen an, d.h. es ist



Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Es gebe eine Folge von unteren Treppenfunktionen  mit und eine Folge von oberen Treppenfunktionen  mit . Es sei vorausgesetzt, dass die beiden zugehörigen Folgen der Treppenintegrale konvergieren und dass ihr Grenzwert übereinstimmt.

Dann ist Riemann-integrierbar, und das bestimmte Integral ist gleich diesem Grenzwert, also

Beweis

Siehe Aufgabe 18.10.



Wir betrachten die Funktion

die bekanntlich in diesem Intervall streng wachsend ist. Für ein Teilintervall ist daher das Minimum und das Maximum der Funktion über diesem Teilintervall. Es sei eine positive natürliche Zahl. Wir unterteilen das Intervall in die gleichlangen Teilintervalle

der Länge . Das Treppenintegral zu der zugehörigen unteren Treppenfunktionen ist

(siehe Aufgabe 2.10 für die Formel für die Summe der Quadrate). Da die beiden Folgen und gegen konvergieren, ist der Limes für von diesen Treppenintegralen gleich . Das Treppenintegral zu der zugehörigen oberen Treppenfunktion ist

Der Limes davon ist wieder . Da beide Limiten übereinstimmen, müssen nach Lemma 18.13 überhaupt das Ober- und das Unterintegral übereinstimmen, sodass die Funktion Riemann-integrierbar ist und das bestimmte Integral

ist.




Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. Die Funktion ist Riemann-integrierbar.
  2. Es gibt eine Unterteilung derart, dass die einzelnen Einschränkungen Riemann-integrierbar sind.
  3. Für jede Unterteilung sind die Einschränkungen Riemann-integrierbar.

In dieser Situation gilt

Beweis

Siehe Aufgabe 18.12.



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt Riemann-integrierbar, wenn die Einschränkung von auf jedes kompakte Intervall Riemann-integrierbar ist.

Aufgrund des obigen Lemmas stimmen für ein kompaktes Intervall die beiden Definitionen überein. Die Integrierbarkeit einer Funktion bedeutet nicht, dass eine Bedeutung hat bzw. existieren muss.



Riemann-Integrierbarkeit stetiger Funktionen



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine stetige Funktion.

Dann ist Riemann-integrierbar.

Wir werden den Beweis, der auf dem Begriff der gleichmäßigen Stetigkeit beruht, nicht durchführen.



Es sei ein kompaktes Intervall und es seien zwei Riemann-integrierbare Funktionen. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Ist für alle , so ist .
  2. Ist für alle , so ist .
  3. Die Summe ist Riemann-integrierbar und es ist .
  4. Für ist .
  5. Die Funktionen und sind Riemann-integrierbar.
  6. Die Funktion ist Riemann-integrierbar.
  7. Das Produkt ist Riemann-integrierbar.

Für (1) bis (4) siehe Aufgabe 18.13. Für (5) siehe Aufgabe 18.15.
(6) folgt direkt aus (5) wegen . Für (7) siehe Aufgabe 18.16.




Fußnoten
  1. Dafür schreibt man auch .


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