Kurs:Singularitätentheorie (Osnabrück 2019)/Vorlesung 3



Simpliziale Komplexe

Die wohl einfachste Art einer Singularität liegt vor, wenn sich verschiedene Standardunterräume (auch unterschiedlicher Dimension), die jeweils von einer Auswahl an Standardvektoren erzeugt werden, im Nullpunkt treffen. Dazu gehören das Achsenkreuz in der Ebene, das Achsenkreuz im Raum, die Vereinigung der drei Achsenebenen im Raum, die Vereinigung einer Ebene mit einer dazu senkrechten Geraden. Diese geometrischen Objekte sind dadurch gegeben, dass sie aus gewissen Teilachsenräumen in einem gegebenen affinen Raum bestehen. Solche Konfigurationen erfassen wir hier mit einem einheitlichen Konzept, das auch in der algebraischen Topologie, der Kombinatorik und der kombinatorischen kommutativen Algebra wichtig ist.


Unter einem simplizialen Komplex auf einer endlichen Menge versteht man eine Ansammlung von Teilmengen von , die die Eigenschaft erfüllen, dass für und auch gilt.

Die zugrunde liegende Menge nennt man auch die Menge der Ecken (vertices) und die Mengen aus nennt man die Seiten des simplizialen Komplexes. Entsprechend nennt man die Teilmengen, die nicht zu gehören, die Nichtseiten des simplizialen Komplexes. Gelegentlich fordert man, dass nicht leer ist oder dass die einzelnen Ecken, also die einelementigen Mengen , stets Seiten sind. Oft setzt man die Menge als

an.

Für einen simplizialen Komplex gibt es verschiedene geometrische Interpretationen. Wir konzentrieren uns auf die durch einen simplizialen Komplex definierte Achsenraumkonfiguration. Zu einem Körper bezeichnet die Menge der durch indizierten Tupel mit Werten in . Bei

ist das einfach die Menge aller -Tupel in , also der - Vektorraum . Zu einem Tupel , , bezeichnet man

den Träger des Tupels.


Zu einem simplizialen Komplex auf der Menge und einem Körper nennt man

die zu gehörende Achsenraumkonfiguration über .


Eine Seite eines simplizialen Komplexes heißt Facette, wenn sie maximal (bezüglicher der Inklusion) unter den Seiten von ist.

Jede Seite eines simplizialen Komplexes ist in einer Facette enthalten. Wenn man die Facetten eines simplizialen Komplexes kennt, so kennt man bereits den gesamten simplizialen Komplex, da er aus sämtlichen Teilmengen der Facetten besteht. So wie die Facetten, die maximalen Seiten, bestimmen auch die minimalen Nichtseiten einen simplizialen Komplex vollständig.


Es sei ein simplizialer Komplex auf der Menge und ein Körper gegeben.

Dann besitzt die zu gehörende Achsenraumkonfiguration über die Beschreibungen

wobei in natürlicher Weise aufgefasst wird, indem man ein -Tupel als ein -Tupel auffasst, das an den Stellen den Wert besitzt.

Beweis

Siehe Aufgabe 3.3.



Zu einem simplizialen Komplex auf einer Menge , der nur aus einzelnen Punkten (und der leeren Menge) besteht, besteht die zugehörige Achsenraumkonfiguration einfach aus den Achsen zu . Das ist eine Teilmenge des vollen Achsenkreuzes.



Ein ungerichteter Graph auf einer Menge (die die Eckpunktmenge des Graphen heißt) besteht aus einer gewissen Auswahl an zweielementigen Teilmengen (die die Kantenmenge des Graphen heißt) von .

Einen ungerichteten Graphen kann man direkt als einen simplizialen Komplex auf auffassen, bei dem alle Eckpunkte dazugehören und der ansonsten nur zweielementige Seiten besitzt, nämlich genau die Kanten des Graphen.


Zu einem Graphen auf einer Menge bzw. dem zugehörigen simplizialen Komplex besteht die zugehörige Achsenraumkonfiguration aus allen Achsen und genau aus denjenigen Achsenebenen , für die eine Kante des Graphen ist. Bei ergibt der leere Graph (bei dem die Kantenmenge leer ist) das Achsenkreuz im Raum, der Graph mit einer Kante ergibt eine Ebene mit einer dazu senkrechten Geraden, der Graph mit zwei Kanten ergibt zwei Ebenen, die sich in einer Geraden senkrecht schneiden, und der Graph mit drei Kanten ergibt die drei Achsenebenen im Raum.



Der simpliziale Komplex auf einer Menge , der aus allen Teilmengen von besteht, heißt Simplex.

Die Achsenraumkonfiguration zum Simplex ist der Gesamtraum .



Es sei eine endliche Menge, ein Körper und der zugehörige Tupelraum und

Dann entsprechen sich die folgenden Objekte (für (3) sei die Charakteristik des Körpers gleich ).

  1. Simpliziale Komplexe auf .
  2. Achsenraumkonfigurationen in , also Vereinigungen der Form über gewisse Teilmengen von .
  3. Teilmengen von , die mit einem Punkt auch jeden Punkt enthalten, dessen Träger im Träger von liegt.

Die Zuordnungen von (1) nach (2) ist dabei durch die Definition 3.2 gegeben. Aus einer Achsenraumkonfiguration erhält man einen simplizialen Komplex durch

Diese beiden Zuordnungen sind offenbar invers zueinander. Aus (2) erhält man (3), indem man die Achsenraumkonfiguration mit schneidet. Aus einer Menge wie in (3) beschrieben erhält man eine Achsenraumkonfiguration, indem man die Vereinigung der zu denjenigen nimmt, die einen Punkt in mit Träger besitzen. Auch diese Zuordnungen sind invers zueinander, da es zu einem Achsenraum , der zu einer Achsenraumkonfiguration gehört, den Punkt auf gibt, aus dem zurückkonstruiert wird.



Zu einem simplizialen Komplex auf nennt man

die geometrische Realisierung des simplizialen Komplexes.

Die geometrische Realisierung ergibt sich also aus der reellen Achsenraumkonfiguration, wenn man diese mit dem Standardsimplex

schneidet.

Wir interessieren uns nun dafür, wie sich die zu einem simplizialen Komplex gegebene Achsenraumkonfiguration als Nullstellenmenge von Funktionen beschreiben lässt. Beispielsweise ist das Achsenkreuz die Nullstellenmenge der Funktion und die Vereinigung der drei Achsenebenen im Raum ist die Nullstellenmenge der Funktion . Betrachten wir eine einzelne Seite des Komplexes, sagen wir , . Dann ist eine Achsenraum, der zu der zugehörigen Achsenraumkonfiguration gehört. Das Variablenprodukt ist eine Funktion auf dem , das auf diesem Teilraum nicht identisch verschwindet (wohl aber Nullstellen hat), da es ja auf allen -Tupeln, deren -Einträge alle von verschieden sind, einen von verschiedenen Wert annimmt. Damit ist dieses Variablenprodukt erst recht nicht auf der gesamten Achsenraumkonfiguration gleich . Wenn hingegen eine Nichtseite des Komplexes ist, so verschwindet das Variablenprodukt auf der Achsenraumkonfiguration, wie das folgende Lemma zeigt.


Zu einem simplizialen Komplex

wird die zugehörige Achsenraumkonfiguration als Nullstellenmenge von allen Variablenprodukten zu Nichtseiten beschrieben, also

Dabei kann man sich auf die minimalen Nichtseiten beschränken.

Nach Proposition 2.6 ist

Wenn mit einer Seite von ist, so sind sämtliche Koordinaten von , die nicht zu gehören, gleich . Wir können annehmen, dass eine Facette ist. Es sei eine Nichtseite. Dann ist und somit gibt es eine Ecke , . Dann ist die -te Komponente von gleich und somit und gehört zur rechten Seite dazu. Es sei nun umgekehrt

angenommen. Es sei der Träger von , also genau dann, wenn ist. Dann ist eine Nichtseite, da andernfalls gelten würde. Wegen

gehört auch nicht zur rechten Seite.



Es sei ein unendlicher Körper und ein simplizialer Komplex.

Dann entsprechen die irreduziblen Komponenten der zugehörigen Achsenraumkonfiguration den Facetten von .

Dies folgt unmittelbar aus Lemma 3.11, wenn man berücksichtigt, dass über einem unendlichen Körper die affinen Räume irreduzibel sind.



Glatte Punkte

Bei einer Achsenraumkonfiguration, die zu einem simplizialen Komplex gehört, erwartet man, dass die Punkte, die auf genau einer irreduziblen Komponente liegen und daher die anderen Komponenten nicht treffen, sich lokal wie Punkte auf einem affinen Raum der entsprechenden Dimension verhalten, also glatt sind. Um dies zu bestätigen müssen wir zuerst allgemein für einen beliebigen Körper die Glattheit definieren. Dieses Konzept hängt zwar im Allgemeinen auch von der Dimension der affin-algebraischen Mengen ab, die wir noch nicht eingeführt haben, doch ist bei den Achsenraumkonfigurationen klar, dass die Dimension einfach die maximale Dimension einer irreduziblen Komponente ist, die ja alle affine Räume sind, deren Dimension aus der Elementanzahl der zugehörigen Facette ablesbar ist.


Es sei ein Körper. Zu einem Polynom

und , , heißt das Polynom

die formale partielle Ableitung von nach .


Es sei ein Körper und es seien Polynome. Es sei ein Punkt. Dann heißt die Matrix

die Jacobi-Matrix zu im Punkt .

Die Jacobi-Matrix im Punkt ist eine -Matrix über . Für beschreibt die Jacobi-Matrix das totale Differential. Wenn die Jacobi-Matrix in einem Punkt surjektiv ist, als ihr Rang gleich ist, so gilt der Satz über implizite Abbildungen, der besagt, dass die Faser durch von in einer offenen Umgebung von diffeomorph zu ist. Die Faser ist also lokal um eine differenzierbare Mannigfaltigkeit.

Dies führt zur folgenden Definition, die sich bei am Satz über implizite Abbildungen orientiert, sonst aber darüber hinausgeht.


Es sei ein algebraisch abgeschlossener Körper und seien Polynome mit der zugehörigen affin-algebraischen Menge

Es sei ein Punkt von mit der Eigenschaft, dass im Punkt die Dimension besitze. Dann heißt ein glatter Punkt von , wenn der Rang der Matrix

im Punkt mindestens ist. Andernfalls heißt der Punkt singulär.

Allerdings haben wir noch nicht den Dimensionsbegriff entwickelt, sodass diese Definition noch in der Luft hängt. Den Dimensionsbegriff zu entwickeln wird eine Aufgabe dieses Kurses sein. Die folgenden erwarteten Eigenschaften geben eine wichtige Orientierung und legen in vielen Situationen die Dimension fest, auch wenn die allgemeine Theorie noch nicht zur Verfügung steht.

  1. Der affine Raum soll die Dimension haben.
  2. Ein einzelner Punkt soll nulldimensional sein.
  3. Bei einem linearen (oder affinen) Unterraum soll die Vektorraumdimension gleich der Dimension sein.
  4. Bei einer komplexen Mannigfaltigkeit soll die Dimension der Mannigfaltigkeit die Dimension sein.
  5. Die Dimension eines geometrischen Objekt, das sich aus verschiedenen (irreduziblen) Komponenten zusammensetzt, sollte die maximale Dimension der beteiligten Komponenten sein.
  6. Bei einem einzigen Polynom in Variablen soll die Faser die Dimension besitzen (Hyperfläche).
  7. Zu affin-algebraischen Mengen und soll die Dimension des Produktes gleich der Summe der beiden Dimensionen sein. Insbesondere soll die Dimension von gleich sein.
  8. Wenn eine polynomiale Abbildung

    zwischen affin-algebraischen Mengen und vorliegt, bei der alle Fasern aus endlich vielen Punkten bestehen, sollen und die gleiche Dimension haben.


Die vorletzte Forderung ist, wenn man über den reellen Zahlen arbeitet, nicht immer zutreffend, wie einfache Beispiele zeigen, im algebraischen und im komplex-analytischen Fall ist dies aber erfüllt.


Zur Abbildung

die durch die Summe der Quadrate gegeben ist, besteht die Faser über dem Nullpunkt allein aus dem Punkt . Ein einziger Punkt besitzt aber (in jeder sinnvollen Dimensionstheorie) die Dimension und nicht, wie bei komplexen Hyperflächen, die Dimension . Über kann man sich die ersten Koordinaten frei vorgeben und hat dann für die letzte Variable noch zwei (gelegentlich eine) Wahlmöglichkeiten, da jede komplexe Zahl zwei Quadratwurzel besitzt.


Wenn eine differenzierbare Abbildung und ein Punkt ist, in dem das totale Differential surjektiv ist (was voraussetzt), sodass man den Satz über implizite Abbildungen anwenden kann, so sind auch die Voraussetzungen von Definition 3.15 erfüllt. Aufgrund der Voraussetzung des Satzes ist ja der Rang des totalen Differentials (also der Rang der Jacobi-Matrix) gleich und aufgrund des Satzes ist die Dimension der Faser im Punkt gleich . Damit ist der Rang gleich . Hierbei wird allerdings verwendet, dass die Mannigfaltigkeitsdimension der lokalen Faser mit der später zu definierenden algebraischen Dimension übereinstimmt. Bei und ist die Dimension der Faser und ein Punkt der Faser ist genau dann glatt, wenn man den Satz über implizite Abbildungen anwenden kann. Beispiel 4.2 gibt ein einfaches Beispiel eines glatten Punktes, in dem der Satz nicht angewendet werden kann.

Wir definieren den Tangentialraum für einen Punkt einer affin-algebraischen Menge, wobei wir uns an der entsprechenden Definition aus der Analysis orientieren. Wir werden im Laufe dieser Vorlesung eine ganze Reihe von weitere Konzepten für den Tangentialraum und den Kotangentialraum kennenlernen. Der Nachteil der gegebenen Definition ist, dass sie extrinsisch ist, also vom umgebenden Raum abhängt, und nicht intrinsisch ist. Eine intrinsische Realisierung werden wir in der zwölften Vorlesung kennenlernen.


Es sei ein Körper und eine polynomiale Abbildung mit dem Nullstellengebilde . Es sei ein Punkt. Dann nennt man

den Tangentialraum an die Faser in .

Oft nennt man auch den affinen Raum den Tangentialraum an von . Nach der Dimensionsformel für lineare Abbildungen gilt

In einem glatten Punkt stimmt somit die Vektorraumdimension des Tangentialraumes mit der Dimension von in überein. Bei einem singulären Punkt einer Hyperfläche ist der gesamte umgebende Raum der Tangentialraum.


Ein singulärer Punkt auf einer Varietät heißt isoliert, wenn es eine offene Umgebung derart gibt, dass der einzige singuläre Punkt von ist.


<< | Kurs:Singularitätentheorie (Osnabrück 2019) | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)