Kurs:Analysis (Osnabrück 2021-2023)/Teil I/Vorlesung 24



Der Mittelwertsatz der Integralrechnung

Zu einer Riemann-integrierbaren Funktion kann man

als die Durchschnittshöhe der Funktion ansehen, da dieser Wert mit der Länge des Grundintervalls multipliziert den Flächeninhalt unterhalb des Graphen zu ergibt. Der Mittelwertsatz der Integralrechnung besagt, dass für eine stetige Funktion dieser Durchschnittswert (oder Mittelwert) von der Funktion auch angenommen wird.



Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine stetige Funktion.

Dann gibt es ein mit

Über dem kompakten Intervall ist die Funktion nach oben und nach unten beschränkt, es seien und das Minimum bzw. das Maximum der Funktion, die aufgrund von Satz 13.10 angenommen werden. Dann ist insbesondere für alle und

Daher ist mit einem und aufgrund des Zwischenwertsatzes gibt es ein mit .



Der Hauptsatz der Infinitesimalrechnung

Es ist geschickt, auch Integralgrenzen zuzulassen, bei denen die untere Integralgrenze die obere Intervallgrenze und die obere Integralgrenze die untere Intervallgrenze ist. Dazu definieren wir für und eine integrierbare Funktion


Es sei ein reelles Intervall und sei

eine Riemann-integrierbare Funktion und . Dann heißt die Funktion

die Integralfunktion zu zum Startpunkt .

Man spricht auch von der Flächenfunktion oder einem unbestimmten Integral.

Das im Satz ist das in der Animation, und im Satz ist das wandernde in der Animation. Der wandernde Punkt in der Animation ist ein Punkt, wie er im Mittelwertsatz der Integralrechnung auftritt.


Die folgende Aussage heißt Hauptsatz der Infinitesimalrechnung.


Es sei ein reelles Intervall und sei

eine stetige Funktion. Es sei und es sei

die zugehörige Integralfunktion.

Dann ist differenzierbar und es gilt

für alle .

Es sei fixiert. Der Differenzenquotient ist

Wir müssen zeigen, dass für der Limes existiert und gleich ist. Nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung gibt es zu jedem ein[1] mit

und damit ist

Für konvergiert gegen und wegen der Stetigkeit von konvergiert gegen .



Stammfunktion

Zur Definition von Stammfunktionen setzen wir wieder . Wir werden uns aber weitgehend auf den reellen Fall beschränken.


Es sei offen und sei

eine Funktion. Eine Funktion

heißt Stammfunktion zu , wenn auf differenzierbar ist und für alle gilt.

Den Hauptsatz der Infinitesimalrechnung kann man zusammen mit Satz 23.14 als einen Existenzsatz für Stammfunktionen interpretieren.



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine stetige Funktion.

Dann besitzt eine Stammfunktion.

Es sei ein beliebiger Punkt. Aufgrund von Satz 23.14 existiert das Riemann-Integral

und aufgrund des Hauptsatzes ist , d.h. ist eine Stammfunktion von .



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine Funktion. Es seien und zwei Stammfunktionen von .

Dann ist eine konstante Funktion.

Es ist

Daher ist nach Korollar 19.4 die Differenz konstant.


Die folgende Aussage ist ebenfalls eine Version des Hauptsatzes, der darin ausgedrückte Zusammenhang heißt auch Newton-Leibniz-Formel.



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine stetige Funktion, für die eine Stammfunktion sei.

Dann gilt für die Gleichheit

Aufgrund von Satz 23.14 existiert das Integral. Mit der Integralfunktion

gilt die Beziehung

Aufgrund von Satz 24.3 ist differenzierbar mit

d.h. ist eine Stammfunktion von . Wegen Lemma 24.6 ist . Daher ist


Da eine Stammfunktion nur bis auf eine additive Konstante bestimmt ist, schreibt man manchmal

und nennt eine Integrationskonstante. In gewissen Situationen, insbesondere im Zusammenhang mit Differentialgleichungen, wird diese Konstante durch zusätzliche Bedingungen festgelegt.

Es sei ein reelles Intervall und eine Stammfunktion zu . Es seien . Dann setzt man


Diese Notation wird hauptsächlich bei Rechnungen verwendet, vor allem beim Ermitteln von bestimmten Integralen.

Mit den schon früher bestimmten Ableitungen von differenzierbaren Funktionen erhält man sofort eine Liste von Stammfunktionen zu einigen wichtigen Funktionen. In der nächsten Vorlesung werden wir weitere Regeln zum Auffinden von Stammfunktionen kennenlernen, die auf Ableitungsregeln beruhen. Im Allgemeinen ist das Auffinden von Stammfunktionen schwierig.

Die Stammfunktion zu , wobei und , , ist, ist .


Zwischen zwei (punktförmig gedachten) Massen und bestehe der Abstand . Aufgrund der Gravitation besitzt dieses System eine gewisse Lageenergie. Wie ändert sich die Lageenergie, wenn die beiden Massen auf einen Abstand von auseinander gezogen werden?

Die aufzubringende Energie ist Anziehungskraft mal Weg, wobei die Anziehungskraft allerdings selbst vom Abstand der Massen abhängt. Nach dem Gravitationsgesetz ist die Kraft beim Abstand gleich

wobei die Gravitationskonstante bezeichnet. Daher ist die Energie (oder Arbeit), die man aufbringen muss, um den Abstand von auf zu erhöhen, gleich

Damit kann man der Differenz der Lageenergien zum Abstand bzw. einen sinnvollen Wert zuweisen, nicht aber den Lageenergien selbst.


Die Stammfunktion der Funktion ist der natürliche Logarithmus.

Die Stammfunktion der Exponentialfunktion ist die Exponentialfunktion selbst.

Die Stammfunktion von ist , die Stammfunktion von ist .

Die Stammfunktion von ist , es ist ja


Die Stammfunktion von auf ist , es ist ja

Auf ist eine Stammfunktion.

In der übernächsten Vorlesung werden wir ein Verfahren angeben, wie man zu einer beliebigen rationalen Funktion (also einem Quotienten aus zwei Polynomen) eine Stammfunktion finden kann.

Siehe hier für eine Tabelle von wichtigen Stammfunktionen.

Achtung! Integrationsregeln sind nur anwendbar auf Funktionen, die im gesamten Intervall definiert sind. Z.B. gilt nicht

da hier über eine Definitionslücke hinweg integriert wird.


Wir betrachten die Funktion

mit

Diese Funktion ist nicht Riemann-integrierbar, da sie weder nach oben noch nach unten beschränkt ist. Es existieren also weder untere noch obere Treppenfunktionen für . Trotzdem besitzt eine Stammfunktion. Dazu betrachten wir die Funktion

Diese Funktion ist differenzierbar. Für ergibt sich die Ableitung

Für ist der Differenzenquotient gleich

Für existiert der Grenzwert und ist gleich , sodass überall differenzierbar ist (aber nicht stetig differenzierbar). Der erste Summand in ist stetig und besitzt daher nach Korollar 24.5 eine Stammfunktion . Daher ist eine Stammfunktion von . Dies ergibt sich für aus der expliziten Ableitung und für aus




Stammfunktionen zu Potenzreihen

Wir erinnern daran, dass die Ableitung einer konvergenten Potenzreihe gliedweise gewonnen werden kann.



Es sei

eine in konvergente Potenzreihe.

Dann ist die Potenzreihe

ebenfalls in konvergent und stellt dort eine Stammfunktion für dar.

Es sei . Nach Voraussetzung und nach Lemma 16.7 ist dann auch die Reihe

konvergent. Für jedes gelten die Abschätzungen

Daher gilt für ein die Abschätzung

Die rechte Reihe konvergiert nach Voraussetzung und ist daher eine konvergente Majorante für die linke Reihe. Daher konvergiert auch und nach Satz 9.9 auch . Die Stammfunktionseigenschaft folgt aus Satz 20.9.


Mit dieser Aussage kann man manchmal die Taylor-Polynome (bzw. die Taylor-Reihe) einer Funktion bestimmen, indem man die Taylor-Polynome der Ableitung verwendet. Wir geben dazu ein typisches Beispiel.


Wir wollen die Taylor-Reihe des natürlichen Logarithmus im Entwicklungspunkt bestimmen. Die Ableitung des natürlichen Logarithmus ist nach Korollar 20.12 gleich . Diese Funktion besitzt nach Satz 9.13 die Potenzreihenentwicklung

im Entwicklungspunkt (die für konvergiert). Daher besitzt nach Lemma 24.11 der natürliche Logarithmus die Potenzreihe

Mit ist dies die Reihe




Fußnoten
  1. Bei positiv. Bei negativ ist . In jedem Fall liegt es in .


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