Kurs:Mathematik (Osnabrück 2009-2011)/Teil II/Vorlesung 56



Lineare Differentialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten

Es sei eine homogene lineare Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten gegeben, d.h.

mit einer konstanten Matrix

Wir lassen hier also auch den Fall zu, dass die Einträge komplexe Zahlen sind. Beim Auffinden der Lösungen zu einer reellen Matrix ist es nämlich hilfreich, die reellen Zahlen als komplexe Zahlen aufzufassen, um dort Umformungen durchzuführen, die im Reellen nicht möglich sind. Die Lösungen werden aber nach wie vor auf reellen Intervallen definiert sein.

Ausgeschrieben liegt also das Differentialgleichungssystem

vor. Solche Systeme lassen sich mit Hilfe der linearen Algebra auf eine Folge von inhomogenen linearen gewöhnlichen Differentialgleichungen in einer Variablen zurückführen und damit sukzessive lösen. Das folgende einfache Lemma gibt bereits einen deutlichen Hinweis dadrauf, dass lineare Eigenschaften der Matrix eng mit den Lösungen des Differentialgleichungssystems zusammenhängen.



Lemma  

Es sei

mit eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten und es sei ein Eigenvektor zu zum Eigenwert .

Dann ist die Abbildung

() eine Lösung dieses Differentialgleichungssystems.

Beweis  

Dies folgt direkt aus


Nun untersuchen wir systematisch, wie man Differentialgleichungssysteme mit konstanten Koeffizienten löst.



Lemma  

Es sei

mit eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten, es sei eine invertierbare Matrix und es sei

Dann ist

genau dann eine Lösung von , wenn eine Lösung der Differentialgleichung ist.

Beweis  

Es sei vorausgesetzt, dass

ist. Dann gelten für mit die Gleichungen

so dass die Differentialgleichung

löst. Die inverse Transformation zeigt, dass zu einer Lösung von die Abbildung eine Lösung für ist.



Satz  

Es sei

mit ein homogenes lineares gewöhnliches Differentialgleichungssystem mit konstanten Koeffizienten.

Dann gibt es eine invertierbare Matrix derart, dass das äquivalente Differentialgleichungssystem

obere Dreiecksgestalt besitzt, also von der Form

(mit ) ist.

Dieses System lässt sich sukzessive von unten nach oben mit dem Lösungsverfahren für inhomogene lineare Differentialgleichungen in einer Variablen lösen. Wenn zusätzlich Anfangsbedingungen für gegeben sind, so ist die Lösung eindeutig.

Beweis  

Aufgrund von Korollar 55.11 ist die Matrix trigonalisierbar, d.h. es gibt eine invertierbare Matrix derart, dass

obere Dreiecksgestalt besitzt. Das lineare Differentialgleichungssystem besitzt also die angegebene Gestalt, und es ist wegen Lemma 56.2 äquivalent zum ursprünglichen System. Die letzte Zeile des neuen Systems, also

ist eine lineare Differentialgleichung in einer Variablen, ihre Lösungen sind . Die zweitletzte Zeile ist

worin man die Lösung für einsetzen kann. Dann erhält man eine inhomogene lineare gewöhnliche Differentialgleichung in der einen Variablen , die man mit dem angegebenen Lösungsverfahren lösen kann. Für die drittletzte Zeile sind dann und schon bekannt und dies führt wieder zu einer inhomogenen linearen Differentialgleichung für . So erhält man sukzessive eine Gesamtlösung . Eine Anfangsbedingung für übersetzt sich direkt in eine Anfangsbedingung für . In dem soeben beschriebenen Lösungsverfahren gibt es dann jeweils eine Anfangsbedingung für die inhomogenen Differentialgleichungen, so dass die Lösungen jeweils eindeutig sind.




Satz  

Es sei

mit eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten mit der Anfangsbedingung , .

Dann gibt es genau eine auf definierte Lösung

für dieses Anfangswertproblem.

Beweis  

Aufgrund von Satz 56.3 gibt es eine eindeutige komplexwertige Lösung

für dieses Differentialgleichungssystem. Da eine reellwertige Lösung insbesondere eine komplexwertige Lösung ist, liegt Eindeutigkeit vor. Der Realteil der komplexen Lösung, also

ist ebenfalls eine Lösung dieses Systems. Wegen der Eindeutigkeit muss sein.



Korollar  

Es sei

mit ein homogenes lineares gewöhnliches Differentialgleichungssystem mit konstanten Koeffizienten.

Dann ist die Menge der Lösungen

ein - dimensionaler - Vektorraum.

Beweis  

Dass der Lösungsraum ein -Vektorraum ist, kann man direkt nachrechnen. Aufgrund von Satz 56.3 bzw. Satz 56.4 gibt es zu jedem Vektor genau eine Lösung

mit

Die Zuordnung, die eine Lösung der Differentialgleichung auf den Ortspunkt abbildet, ist linear, so dass eine lineare Isomorphie zwischen dem Lösungsraum und vorliegt.



Definition  

Es sei

mit ein homogenes lineares gewöhnliches Differentialgleichungssystem mit konstanten Koeffizienten. Dann heißt eine Basis des Lösungsraumes ein Fundamentalsystem von Lösungen dieses Systems.



Korollar  

Es sei

mit eine lineare gewöhnliche Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten. Die Matrix sei diagonalisierbar mit den linear unabhängigen Eigenvektoren .

Dann ist der Lösungsraum der Differentialgleichung gleich

wobei der Eigenwert zu ist.

Beweis  

Dies folgt direkt aus Satz 56.1 und aus Korollar 56.5.


Beispiel  

Wir betrachten das lineare Differentialgleichungssystem

Für

(also die konstante Nullfunktion in der zweiten Komponente) ergibt sich aus der ersten Zeile (bis auf skalare Vielfache) sofort , was insgesamt der Lösung (der ersten Fundamentallösung)

zum Eigenvektor gemäß Satz 56.1 entspricht.

Es sei nun . Dann führt die zweite Zeile zu , was wir Satz 56.3 entsprechend zu einer Gesamtlösung fortsetzen. Die erste Zeile lautet somit

Die Lösung der zugehörigen homogenen Gleichung ist , so dass sich mit der Variation der Konstanten der Ansatz mit

ergibt.

Bei ergibt sich und damit die zweite Fundamentallösung

Bei gehört diese zweite Lösung nicht zu einem Eigenvektor.

Bei ergibt sich und damit die zweite Fundamentallösung

Dies ist wieder eine Lösung, die zu einem Eigenvektor gehört.



Beispiel  

Wir betrachten die Bewegung eines Punktes auf der Geraden, wobei die Lage des Punktes proportional zur auf ihn wirkenden Kraft (bzw. Beschleunigung) in Richtung des Nullpunkts sein soll. Wenn der Punkt sich in befindet und sich in die positive Richtung bewegt, so wirkt diese Kraft bremsend, wenn er sich in die negative Richtung bewegt, so wirkt die Kraft beschleunigend. Mit der Proportionalitätskonstante gelangt man zur linearen Differentialgleichung (zweiter Ordnung)

die diesen Bewegungsvorgang beschreibt. Als Anfangsbedingung wählen wir und , zum Zeitpunkt soll die Bewegung also durch den Nullpunkt gehen und dort die Geschwindigkeit besitzen. Man kann sofort die Lösung

angeben. Wir werden diese Lösung mit den Lösungsmethoden für lineare Differentialgleichungen herleiten. Die Differentialgleichung führt zum linearen Differentialgleichungssystem

Das charakteristische Polynom ist

und Eigenvektoren sind (zum Eigenwert ) und (zum Eigenwert ). Die allgemeine komplexe Lösung ist also nach Korollar 56.7 gleich

wobei letztlich nur der Realteil der ersten Zeile interessiert. Die Anfangsbedingung führt zu

Also ist und . Daher ist die Lösung

nach Satz 25.11.




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