Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil II/Vorlesung 57/kontrolle
- Zur Eindeutigkeit der Lösungen von Differentialgleichungen
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein stetiges Vektorfeld auf das lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt. Es sei ein offenes Teilintervall und es seien
Lösungen des Anfangswertproblems
Dann ist .
Wir betrachten die Menge
Wegen
ist diese Menge nicht leer.
Zu jedem Punkt
gibt es nach
Satz 56.2
eine offene Intervallumgebung
,
worauf es zu gegebener Anfangsbedingung
genau eine Lösung der Differentialgleichung gibt. Wenn
ist, so ist
und daher stimmen
und
in einer offenen Umgebung
mit der eindeutigen Lösung und damit untereinander überein. Also ist
.
Dies bedeutet, dass eine
offene
Teilmenge von ist.
Andererseits sind
und
stetig
und daher ist nach
Aufgabe 34.14
die Menge auch
abgeschlossen
in .
Da ein Intervall
nach Satz 35.9 zusammenhängend
ist, folgt
.
Das folgende Beispiel zeigt, dass ohne die Lipschitz-Bedingung die Lösung eines Anfangswertproblems nicht eindeutig bestimmt ist. In diesem Beispiel ist das Vektorfeld nach ableitbar, die Ableitung ist aber nicht stetig, so dass
Lemma 55.4
nicht anwendbar ist.
Wir betrachten das Anfangswertproblem
zum zeitunabhängigen Vektorfeld
Offensichtlich gibt es die stationäre Lösung
aber auch
ist eine Lösung, wie man durch Nachrechnen sofort bestätigt. Aus diesen beiden Lösungen kann man sich noch weitere Lösungen basteln. Es seien dazu reelle Zahlen. Dann ist auch
eine Lösung. D.h. es gibt Lösungen, bei denen das Teilchen beliebig lange (im Zeitintervall von nach ) ruht und danach (und davor) sich bewegt. Sobald sich das Teilchen in einem Punkt befindet, ist der Bewegungsablauf lokal eindeutig bestimmt.
Zu einem stetigen Vektorfeld
kann man sich fragen, ob es ein maximales Definitionsintervall für die Lösung eines Anfangswertproblems
gibt. Dies ist in der Tat der Fall, wenn das Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt! Man kann nämlich alle Teilmengen
betrachten. Wegen Satz 57.1 stimmen zwei Lösungen und auf dem Durchschnitt überein, und liefern daher eine eindeutige Lösung auf der Vereinigung . Daher enthält die Menge der Teilintervalle, auf denen eine Lösung definiert ist, ein maximales Teilintervall .
Dieses Teilintervall kann kleiner als sein. Die Grenzen des maximalen Teilintervalls, auf dem eine Lösung definiert ist, heißen auch Entweichzeiten.
Ein Beispiel für ein solches Verhalten hatten wir schon in Analysis 1 kennengelernt, siehe Beispiel 30.7.
- Gradientenfelder
Es sei ein euklidischer Vektorraum, offen und
eine differenzierbare Funktion. Dann nennt man die Abbildung
das zugehörige Gradientenfeld.
Ein Gradientenfeld ist also ein zeitunabhängiges Vektorfeld. Man spricht auch von einem Potentialfeld, die Funktion (manchmal ) heißt dann ein Potential des Vektorfeldes. Wenn zweimal stetig differenzierbar ist, so genügt nach Lemma 55.4 das zugehörige Gradientenfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung.
Die folgende Aussage zeigt, dass die Lösungskurven der zugehörigen Differentialgleichung senkrecht auf den Fasern von liegen. Die Fasern beschreiben, wo das Potential (oder die Höhenfunktion) konstant ist, die Lösungen beschreiben nach Satz 47.8 den Weg des steilsten Anstiegs. Wenn beispielsweise die Höhenfunktion eines Gebirges ist, so gibt das Gradientenfeld in jedem Punkt den steilsten Anstieg an und die Trajektorie einer Lösungskurve beschreibt den Verlauf eines Baches (wir behaupten nicht, dass die Bewegung eines Wassermoleküls im Bach durch diese Differentialgleichung bestimmt ist, sondern lediglich, dass der zurückgelegte Weg, also das Bild der Kurve, mit dem Bild der Lösungskurve übereinstimmt). Der Bach verläuft immer senkrecht zu den Höhenlinien.
Es sei ein euklidischer Vektorraum, offen,
eine differenzierbare Funktion und
das zugehörige Gradientenfeld. Es sei
eine Lösung der Differentialgleichung
Dann steht senkrecht auf dem Tangentialraum der Faser von durch für , für die reguläre Punkte von sind.
Sei ein regulärer Punkt von und sei ein Vektor aus dem Tangentialraum. Dann gilt direkt
Wir betrachten die Produktabbildung
Das zugehörige Gradientenfeld ist
Die Fasern von sind das Achsenkreuz (die Faser über ) und die durch , , gegebenen Hyperbeln. Die Lösungen der linearen Differentialgleichung
sind von der Form
mit beliebigen , wie man direkt nachrechnet und was sich auch aus Lemma 42.1 bzw. Aufgabe ***** {{:Kurs:Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Differentialgleichungssystem/(u,v)' ist (v,u)/Allgemeine Lösung/Aufgabe/Aufgabereferenznummer/Differentialgleichungssystem/(u,v)' ist (v,u)/Allgemeine Lösung/Aufgabe/Aufgabereferenznummer}} ergibt. Dabei ist . Für ist dies die stationäre Lösung im Nullpunkt, in dem die Produktabbildung nicht regulär ist. Bei ist , das Bild dieser Lösung ist die obere Halbdiagonale (ohne den Nullpunkt), bei ist , das Bild dieser Lösung ist die untere Halbdiagonale, bei und ist , das Bild dieser Lösung ist die untere Hälfte der Nebendiagonalen, bei und ist , das Bild dieser Lösung ist die obere Hälfte der Nebendiagonalen.
Ansonsten treffen die Lösungskurven das Achsenkreuz in einem Punkt . Wenn man diesen Punkt als Anfangswert zum Zeitpunkt nimmt, so kann man die Lösungskurven als
(zum Zeitpunkt befindet sich die Lösung auf der Achse im Punkt ),
und als(zum Zeitpunkt befindet sich die Lösung auf der Achse im Punkt ) realisieren. Die Bahnen dieser Lösungen erfüllen die Gleichung bzw. , d.h. sie sind selbst Hyperbeln.
Jedes stetige zeitunabhängige eindimensionale Vektorfeld ist ein Gradientenfeld. Ein solches Vektorfeld ist ja durch eine Funktion
auf einem offenen Intervall gegeben. Mit einer Stammfunktion
zu kann man
schreiben. Für einen regulären Punkt zu ist das totale Differential injektiv und daher ist der Tangentialraum an der Faser der Nullraum. In diesem Fall ist also Lemma 57.5 ohne Relevanz.
- Wegintegrale und Gradientenfelder
Es sei eine offene Teilmenge und
eine stetig differenzierbare Funktion mit dem zugehörigen Gradientenfeld . Es sei ein stetig differenzierbarer Weg in .
Dann gilt für das Wegintegral
D.h. das Wegintegral hängt nur vom Anfangs- und Endpunkt des Weges ab.[1]
Aufgrund der Kettenregel ist
Es sei eine offene Teilmenge und
eine differenzierbare Funktion mit dem zugehörigen Gradientenfeld . Es sei ein stetig differenzierbarer Weg mit .
Dann ist
Dies folgt direkt aus Lemma 57.8.
Es sei eine offene zusammenhängende Teilmenge und
ein stetiges Vektorfeld. Dann sind die folgenden Eigenschaften äquivalent.
- ist ein Gradientenfeld.
- Für jeden stetig differenzierbaren Weg hängt das Wegintegral nur vom Anfangspunkt und Endpunkt ab.
Die Implikation folgt aus
Lemma 57.8.
Es sei umgekehrt die Eigenschaft erfüllt. Wir geben eine auf definierte Funktion an, die differenzierbar ist und deren
Gradientenfeld
gleich dem vorgegebenen Vektorfeld ist. Dazu sei ein Punkt
fixiert. Für jeden Punkt
gibt es einen
stetig differenzierbaren Weg[2]
mit und . Wir setzen
Aufgrund der vorausgesetzten Wegunabhängigkeit des Integrals ist wohldefiniert. Wir müssen zeigen, dass diese so definierte Funktion in jedem Punkt und in jede Richtung differenzierbar ist und die Richtungsableitung mit übereinstimmt. Dazu betrachten wir
wobei der verbindende lineare Weg von nach auf sei (und hinreichend klein sei, damit ist). Für den Differentialquotienten ist
Somit existiert die Richtungsableitung von in Richtung und hängt stetig von ab. Diese Gleichung zeigt ferner
sodass das Gradientenfeld zu ist.
- Fußnoten
- ↑ In einem Potentialfeld ist also die geleistete Arbeit gleich der Potentialdifferenz von Start- und Endpunkt.
- ↑ Aus der Existenz eines verbindenden stetigen Weges folgt die Existenz eines verbindenden stetig differenzierbaren Weges. Man könnte also auch diese Eigenschaft als Definition für zusammenhängend nehmen.