Kurs:Analysis (Osnabrück 2021-2023)/Teil II/Vorlesung 56



Differential- und Integralgleichungen

Mit dem Begriff des Integrals einer Kurve kann man Differentialgleichungen auch als Integralgleichungen schreiben.


Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein stetiges Vektorfeld auf . Es sei vorgegeben.

Dann ist eine stetige Abbildung

auf einem Intervall mit genau dann eine Lösung des Anfangswertproblems  (insbesondere muss differenzierbar sein)

wenn die Integralgleichung

erfüllt.

Es sei die Integralbedingung erfüllt. Dann ist

und aufgrund des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung gilt . Insbesondere sichert die Integralbedingung, dass differenzierbar ist.
Wenn umgekehrt eine Lösung des Anfangswertproblems ist, so ist und daher





Der Satz von Picard-Lindelöf

Wir kommen nun zum wichtigsten Existenz- und Eindeutigkeitssatz für die Lösungen von gewöhnlichen Differentialgleichungen.


Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Es sei vorausgesetzt, dass dieses Vektorfeld stetig sei und lokal einer Lipschitz-Bedingung genüge.

Dann gibt es zu jedem ein offenes Intervall  mit derart, dass auf diesem Intervall eine eindeutige Lösung für das Anfangswertproblem

existiert.

Nach Lemma 56.1 ist eine stetige Abbildung

genau dann eine Lösung des Anfangswertproblems, wenn die Integralgleichung

erfüllt. Wir wollen die Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung für diese Integralgleichung unter Verwendung des Banachschen Fixpunktsatzes dadurch erweisen, dass wir für die Abbildung (man spricht von einem Funktional)

einen Fixpunkt finden. Hierbei stehen links und rechts Abbildungen in (aus einem gewissen Teilintervall von mit Werten in ). Die Fixpunkteigenschaft bedeutet gerade, dass ist. Um den Fixpunktsatz anwenden zu können müssen wir ein Definitionsintervall festlegen, und eine Metrik auf dem Abbildungsraum nach definieren, diesen metrischen Raum dann als vollständig und das Funktional als stark kontrahierend nachweisen. Aufgrund der Voraussetzung über die lokale Lipschitz-Bedingung gibt es eine offene Umgebung

und ein mit

für alle und . Durch Verkleinern der Radien können wir annehmen, dass der Abschluss von , also das Produkt des abgeschlossenen Intervalls mit der abgeschlossenen Kugel, ebenfalls in liegt. Aufgrund von Satz 36.12 gibt es ein mit

(da diese Beschränktheit auf dem Abschluss gilt). Wir ersetzen nun durch ein kleineres Intervall

mit , und .
Wir betrachten nun die Menge der stetigen Abbildungen

Dabei wird also mit der Maximumsnorm auf versehen. Dieser Raum ist nach Satz 55.9 und nach Aufgabe 36.22 wieder ein vollständiger metrischer Raum.
Wir betrachten nun auf diesem konstruierten Intervall bzw. der zugehörigen Menge die Abbildung

Dazu müssen wir zunächst zeigen, dass wieder zu gehört. Für ist aber nach Satz 39.1

und ist stetig, da es durch ein Integral definiert wird.
Zum Nachweis der Kontraktionseigenschaft seien gegeben. Für ein ist

Da dies für jedes gilt, folgt aus dieser Abschätzung direkt

d.h. es liegt eine starke Kontraktion vor. Daher besitzt ein eindeutiges Fixelement , und diese Abbildung löst die Differentialgleichung. Dies gilt dann erst recht auf jedem offenen Teilintervall von .
Damit haben wir insbesondere bewiesen, dass es in nur eine Lösung geben kann, wir wollen aber generell auf dem Intervall Eindeutigkeit erhalten. Für eine Lösung gilt aber wegen der Integralbeziehung wieder

und die gleichen Abschätzungen wie weiter oben zeigen, dass die Lösung zu gehören muss.




Die Picard-Lindelöf-Iteration

Der Beweis des Satzes von Picard-Lindelöf ist prinzipiell konstruktiv. Darauf beruht die Picard-Lindelöf-Iteration, mit der man Lösungen approximieren kann. Die Güte der Approximationen wird dabei durch geeignete Normen auf Funktionenräumen gemessen, was wir nicht ausführen.

Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und

ein Vektorfeld auf . Es sei eine Anfangsbedingung. Es sei vorausgesetzt, dass dieses Vektorfeld stetig sei und lokal einer Lipschitz-Bedingung genüge. In der Picard-Lindelöf-Iteration definiert man iterativ eine Folge von Funktionen

durch (dies ist also die konstante Funktion mit dem Wert ) und durch

Dann gibt es ein Teilintervall mit derart, dass für die Folge gegen einen Punkt konvergiert, wobei gleichmäßige Konvergenz vorliegt. Die Grenzfunktion ist dann eine Lösung des Anfangswertproblems

Bei einer linearen Differentialgleichung mit stetigen Koeffizientenfunktionen konvergiert dieses Verfahren auf ganz .


Zu einem ortsunabhängigen Vektorfeld

und der Anfangsbedingung führt die erste Picard-Lindelöf-Iteration auf

wobei eine Stammkurve zu mit sei. Die erste Iteration liefert hier also direkt die Lösung. Die kontrahierende Abbildung im Beweis zu Satz 56.2 ist in dieser Situation konstant.


Wir wenden dieses approximative Verfahren auf eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen an, für die wir die Lösung schon kennen (siehe Aufgabe 30.11).


Wir wenden die Picard-Lindelöf-Iteration auf die Differentialgleichung

mit der Anfangsbedingung

an (die Lösung ist ). Daher ist . Die erste Iteration liefert

Die zweite Iteration liefert

Die dritte Iteration liefert

Dabei stimmt die -te Iteration mit der Taylor-Entwicklung der Ordnung der Lösung überein.


Es sei

eine lineare Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten auf dem und es sei eine Anfangsbedingung gegeben. Wir behaupten, dass die -te Picard-Lindelöf-Iteration gleich

ist, wobei die -fache Potenz der Matrix bezeichnet. Diese Aussage zeigen wir durch Induktion nach . Für steht rechts einfach die konstante Kurve . Es sei die Aussage nun für schon bewiesen. Dann ist

und die Aussage ist auch für richtig. Diese Approximationen sind die Anfangsglieder in der „Exponentialreihe in dem Ausdruck“ . Man kann zeigen, dass diese Exponentialreihe auf konvergiert und in der Tat die Lösung des Anfangswertproblems ist (der Satz von Picard-Lindelöf sichert nur die Konvergenz auf einer Intervallumgebung).



Wir wenden die Picard-Lindelöf-Iteration auf das Anfangswertproblem

zum Vektorfeld

an. Es ist

Daher ist

Es ist

und daher

Wegen

und daher



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