Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2020-2021)/Teil II/Vorlesung 41



Differentialgleichungen höherer Ordnung

Viele physikalische Bewegungsprozesse sind nicht dadurch determiniert, dass zu jedem Zeit- und Ortspunkt die Bewegungsrichtung (also die gerichtete Geschwindigkeit) vorgegeben wird, sondern dadurch, dass zu jedem Zeit- und Ortspunkt eine Kraft auf ein Teilchen wirkt, die dieses beschleunigt. In diesem Fall kann die Bewegung also nicht durch die erste Ableitung (Geschwindigkeit) modelliert werden, sondern durch die zweite Ableitung (Beschleunigung). Typische Beispiele hierzu sind die durch die Gravitation oder eine Federkraft hervorgerufenen Bewegungen.


Ein Gegenstand der Masse wird im Vakuum aus einer Höhe zum Zeitpunkt losgelassen und fällt unter dem Einfluss der Gravitation zu Boden (freier Fall im Vakuum). Dabei wirkt auf den Körper die Gravitationskraft (die Erdbeschleunigung nehmen wir für diesen Bewegungsvorgang als konstant an), die ihn nach dem Gesetz „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ beschleunigt. Die Beschleunigung ist also konstant und unabhängig von der Masse. Dies bedeutet, dass die Geschwindigkeit des Körpers die Differentialgleichung

erfüllt (die Wahl des Vorzeichens bewirkt, dass der Körper ins Negative fällt). Die durch die Anfangsbedingung (der Gegenstand ruhe zum Zeitpunkt ) festgelegte Lösung für die Geschwindigkeit ist daher

Der zurückgelegte Weg des Körpers ergibt sich wiederum aus der Differentialgleichung

die besagt, dass die Ableitung des Weges nach der Zeit die Momentangeschwindigkeit beschreibt. Die Lösung davon ist

Den Gesamtvorgang kann man durch die Differentialgleichung zweiter Ordnung

ausdrücken.



Wir betrachten die Bewegung eines Punktes auf einer Geraden, wobei die auf den Punkt (in Richtung des Nullpunkts) wirkende Kraft (bzw. Beschleunigung) proportional zur Lage des Punktes sein soll. Wenn der Punkt sich in befindet und sich in die positive Richtung bewegt, so wirkt diese Kraft bremsend, wenn er sich in die negative Richtung bewegt, so wirkt die Kraft beschleunigend. Mit der Proportionalitätskonstante gelangt man zur Differentialgleichung (zweiter Ordnung)

die diesen Bewegungsvorgang beschreibt. Als Anfangsbedingung wählen wir und , zum Zeitpunkt soll die Bewegung also durch den Nullpunkt gehen und dort die Geschwindigkeit besitzen. Man kann sofort die Lösung

angeben.



Ein Gegenstand der Masse wird aus der Höhe losgelassen und fällt unter dem Einfluss der Gravitation zu Boden. Dabei wirkt auf den Körper einerseits die Gravitationskraft (die Erdbeschleunigung nehmen wir für diesen Bewegungsvorgang als konstant an), die ihn beschleunigt, andererseits wird diese Beschleunigung durch den Luftwiderstand verringert. Nach einem physikalischen Gesetz ist die Reibung (bei relativ kleinen Geschwindigkeiten) proportional und entgegengesetzt zur Geschwindigkeit des Körpers. Es sei der Reibungswiderstand, also dieser Proportionalitätsfaktor. Die auf den Körper (nach unten) wirkende Gesamtkraft ist daher

Wegen

gilt daher für diesen Bewegungsvorgang die Differentialgleichung zweiter Ordnung

Wenn wir dies mit der Ableitungsfunktion schreiben, so erhalten wir die Bedingung

die nach Beispiel 32.11 die Lösungen

besitzt. Durch Intergration erhält man für die Differentialgleichung zweiter Ordnung die Lösungsfunktionen

mit beliebigen Konstanten . Siehe auch Aufgabe 41.4.



Es sei ein offenes Intervall, offen und

eine Funktion. Dann nennt man den Ausdruck

eine Differentialgleichung der Ordnung .

Unter einer Lösung einer Differentialgleichung höherer Ordnung versteht man eine -mal differenzierbare Funktion

(wobei ein offenes Teilintervall ist) derart, dass

für alle gilt.

Differentialgleichungen beliebiger Ordnung können unter Inkaufnahme von neuen Variablen auf ein Differentialgleichungssystem erster Ordnung zurückgeführt werden.



Es sei ein Intervall, eine offene Menge und

eine Funktion.

Dann ist die Differentialgleichung höherer Ordnung

über die Beziehung

äquivalent zum Differentialgleichungssystem

Wenn

eine Lösung der Differentialgleichung höherer Ordnung

ist, so sind alle Funktionen für differenzierbar, und es gilt für nach Definition und schließlich


Wenn umgekehrt

eine Lösung des Differentialgleichungssystems zum Vektorfeld

ist, so ergibt sich sukzessive aus den ersten Gleichungen, dass -mal differenzierbar ist, und die letzte Gleichung des Differentialgleichungssystems besagt gerade



Mit dieser Umformung ist auch klar, wie sinnvolle Anfangsbedingungen für eine Differentialgleichung höherer Ordnung aussehen. Man muss nicht nur einen Startwert , sondern auch die höheren Ableitungen , , usw. festlegen.

Es ist im Allgemeinen schwierig, eine Differentialgleichung explizit zu lösen. Wir besprechen daher zwei approximierende Verfahren, nämlich das eulersche Polygonzugverfahren und den Potenzreihenansatz. Über die Güte der Approximationen machen wir keine Angabe.



Polygonzugverfahren

Mit dem (eulerschen) Polygonzugverfahren wird die Lösungskurve einer Differentialgleichung diskret approximiert.


Es sei ein Vektorfeld

auf einer offenen Menge und eine Anfangsbedingung gegeben. Das eulersche Polygonzugverfahren funktioniert folgendermaßen: Man wählt eine Schrittweite und berechnet rekursiv die Punktfolge , , durch und

Zu einem schon konstruierten Punkt wird also das -fache des Richtungsvektors zum Zeitpunkt an diesem Punkt hinzuaddiert. Dies funktioniert nur, solange die Punkte im Definitionsbereich des Vektorfeldes liegen. Der zu dieser Punktfolge gehörende Streckenzug oder Polygonzug

ist die lineare Interpolation mit , d.h. für mit ist

Dieser Streckenzug stellt eine stückweise lineare Approximation der Lösungskurve des Anfangswertproblems dar. Für eine kleinere Schrittweite wird die Approximation im Allgemeinen besser.


Bei einer eindimensionalen ortsunabhängigen Differentialgleichung

ergibt sich einfach als eine Stammfunktion zu . Wendet man in dieser Situation Verfahren 41.6 zum Startzeitpunkt , zum Startpunkt und zur Schrittweite an, so ergibt sich die rekursive Beziehung

Daher ist offenbar

D.h. dass man zu dem Ausgangswert das Treppenintegral zur äquidistanten Unterteilung (und zur durch auf dem Teilintervall gegebenen Treppenfunktion) hinzuaddiert. Der zugehörige Streckenzug ist die (stückweise lineare) Integralfunktion zu dieser Treppenfunktion.



Wir wollen für das Differentialgleichungssystem

mit der Anfangsbedingung

gemäß Verfahren 41.6 einen approximierenden Streckenzug berechnen. Wir wählen die Schrittweite . Somit ist

und




Potenzreihenansatz

Nicht alle Differentialgleichungen sind explizit lösbar, und selbst wenn es eine explizite Lösung gibt, so ist es häufig schwierig, diese zu finden. Statt der vollen Information einer Lösungskurve begnügt man sich häufig mit der Teilinformation, die in der Taylor-Entwicklung der Kurve (bis zu einem bestimmten Grad) enthalten ist, d.h. man bestimmt gewisse Ableitungen der Kurve zu einem bestimmten Zeit- und Ortspunkt. Diese Information kann man häufig direkt aus der Differentialgleichung ablesen, ohne die Lösungskurve zu bestimmen. Diese Vorgehensweise setzt voraus, dass das Vektorfeld durch „analytische“ (beispielsweise polynomiale) Daten gegeben ist.


Es sei ein Anfangswertproblem

zu einem Vektorfeld

gegeben, wobei die Komponentenfunktionen , , polynomial (oder durch Potenzreihen gegeben) seien. Dann lässt sich ein Potenzreihenansatz für die Lösung durchführen. Das bedeutet, dass man den Ansatz mit unbestimmten Koeffizienten macht, und diese Koeffizienten (bis zu einem gewünschten Grad) aus den Gleichungen

sukzessive bestimmt. Die Anfangsbedingungen

legen dabei die konstanten Koeffizienten der Potenzreihen fest. In das Differentialgleichungssystem werden die Potenzreihen links und rechts eingesetzt und ausgewertet, wobei die Ableitung links formal zu nehmen ist und rechts die Reihen formal zu addieren und zu multiplizieren sind. Dies ergibt Gleichungen für Potenzreihen in , die durch Koeffizientenvergleich, beginnend mit den Koeffizienten von kleinem Grad, gelöst werden können.


Wir betrachen das Anfangswertproblem

und wollen es mit einem Potenzreihenansatz lösen. Es sei also

die auszuwertende Potenzreihengleichung ist somit

Die Anfangsbedingung legt fest. Für den konstanten Term (also zu ) ergibt sich aus der Potenzreihengleichung

Für ergibt sich

Für ergibt sich

also ist . Für ergibt sich

also ist . Für ergibt sich

also ist . Die Taylor-Entwicklung der Lösungskurve bis zur Ordnung ist demnach



Wir betrachten das Anfangswertproblem

und machen den Potenzreihenansatz und . Aufgrund der Anfangsbedingung ist

Das Differentialgleichungssystem führt auf die beiden Potenreihengleichungen

und

die wir gradweise auswerten. Für den Grad (der Potenzreihengleichungen) ergeben sich daraus die beiden Gleichungen

Für den Grad ergeben sich daraus die beiden Gleichungen

also ist und . Für den Grad ergeben sich daraus die beiden Gleichungen

also ist und . Für den Grad ergeben sich daraus die beiden Gleichungen

also ist und . Die Taylor-Entwicklung der Lösungskurve bis zur Ordnung ist demnach


Eine Differentialgleichung höherer Ordnung

kann man entsprechend Bemerkung 41.12 mit einem Potenzreihenansatz, also mit einem Ansatz der Form

mit unbestimmten Koeffizienten , (bis zu einer gewissen Ordnung) lösen. Dazu muss die Funktion polynomial (oder durch eine Potenzreihe gegeben) sein. Damit die Lösung eindeutig ist, müssen zusätzlich Anfangsbedingungen

vorgegeben sein. Die Koeffizienten werden sukzessive unter Verwendung der Differentialgleichung und der Anfangsbedingungen gelöst.



Wir betrachen das Anfangswertproblem

und wollen es mit einem Potenzreihenansatz lösen. Es sei also

die auszuwertende Potenzreihengleichung ist somit

Die Anfangsbedingung legt und fest. Für den konstanten Term (also zu ) ergibt sich aus der Potenzreihengleichung

also ist . Für ergibt sich

also ist . Für ergibt sich

also ist . Für ergibt sich

also ist . Die Taylor-Entwicklung der Lösungskurve bis zur Ordnung ist demnach



<< | Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2020-2021)/Teil II | >>

PDF-Version dieser Vorlesung

Arbeitsblatt zur Vorlesung (PDF)