Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil I/Vorlesung 21
- Die Zahl
Die Zahl ist der Flächeninhalt bzw. der halbe Kreisumfang eines Kreises mit Radius . Um darauf eine präzise Definition dieser Zahl aufzubauen müsste man zuerst die Maßtheorie (bzw. die Länge von „krummen Kurven“) entwickeln. Auch die trigonometrischen Funktionen haben eine intuitive Interpretation am Einheitskreis, doch auch diese setzt das Konzept der Bogenlänge voraus. Ein alternativer Zugang ist es, die Zahl über analytische Eigenschaften der durch ihre Potenzreihen definierten Funktionen Sinus und Kosinus zu definieren und dann erst nach und nach die Beziehung zum Kreis herzustellen (siehe Beispiel 25.11 und Beispiel 38.12).
Die Kosinusfunktion
besitzt im reellen Intervall genau eine Nullstelle.
Wir betrachten die Kosinusreihe
Für ist . Für kann man geschickt klammern und erhält
Nach dem
Zwischenwertsatz
gibt es also mindestens eine Nullstelle im angegebenen Intervall.
Zum Beweis der Eindeutigkeit betrachten wir die
Ableitung
des Kosinus, diese ist nach
Satz 20.15
Es genügt zu zeigen, dass der Sinus im Intervall positiv ist, denn dann ist das Negative davon stets negativ und der Kosinus ist dann nach Satz 19.5 im angegebenen Intervall streng fallend, sodass es nur eine Nullstelle gibt. Für gilt
Es sei die eindeutig bestimmte reelle Nullstelle der Kosinusfunktion aus dem Intervall . Die Kreiszahl ist durch
definiert.
Im weiteren Verlauf dieses Kurses werden wir sehen, dass die so definierte Zahl mit der Kreiszahl übereinstimmt, dass also der Umfang eines Kreises mit Radius gleich und sein Flächeninhalt gleich ist.
Die Sinusfunktion und die Kosinusfunktion erfüllen in folgende Periodizitätseigenschaften.
- Es ist und für alle .
- Es ist und für alle .
- Es ist und für alle .
- Es ist , , und . Die Nullstellen des Kosinus sind von der Form , .
- Es ist , , , und . Die Nullstellen des Sinus sind von der Form , .
Aufgrund der Kreisgleichung
ist , also ist wegen der Überlegung im Beweis zu Lemma 21.1. Daraus folgen mit den Additionstheoremen die in (3) angegebenen Beziehungen zwischen Sinus und Kosinus, beispielsweise ist
Es genügt daher, die Aussagen für den Kosinus zu beweisen. Alle Aussagen folgen dann aus der Definition von und aus (3). Dass die trigonometrischen Funktionen außer den angegebenen reellen Nullstellen keine weiteren Nullstellen in besitzen wurde in Aufgabe ***** bewiesen.
induziert eine bijektive, streng wachsende Funktion
und die reelle Kosinusfunktion induziert eine bijektive streng fallende Funktion
Beweis
- Polarkoordinaten für
Die komplexe Exponentialfunktion besitzt die folgenden Eigenschaften.
- Es ist .
- Es ist genau dann, wenn für ein ist.
- Es ist genau dann, wenn für ein ist.
Dies folgt aus Satz 15.10, aus Satz 21.3 und aus Satz 15.7.
Insbesondere gilt also die berühmte Formel
Aus der Eulerschen Gleichung
kann man ebenso die Gleichung bzw. ablesen, die die fünf wichtigsten Zahlen der Mathematik enthält.
Wegen Satz 15.10 ist
d.h. ist als Betrag der komplexen Zahl festgelegt. Wir können durch den Betrag teilen und können dann davon ausgehen, dass eine komplexe Zahl
mit und mit vorliegt. Es ist dann zu zeigen, dass es eine eindeutige Darstellung
gibt. Bei
(bzw. )
ist
und
(bzw.
)
ist die einzige Lösung. Wir zeigen, dass es für ein gegebenes
stets genau zwei Möglichkeiten für mit
gibt, und eine davon wird durch das Vorzeichen von ausgeschlossen.
Bei
gibt es aufgrund von
Korollar 21.4
ein eindeutiges
mit
.
Für dieses gilt
wegen
und
. Bei
gibt es wiederum ein eindeutiges
mit
.
Wegen
ist dies aber keine Lösung für beide Gleichungen. Stattdessen erfüllt
beide Gleichungen.
Die in diesem Satz beschriebene Darstellung für eine komplexe Zahl heißen ihre Polarkoordinaten. Zu
heißt der Betrag und das Argument
(oder der Winkel)
von .
Der Satz sagt insbesondere, dass die Abbildung
eine bijektive Parametrisierung des Einheitskreises liefert. Zu gehört also ein eindeutig bestimmter Punkt des Einheitskreises. Wir werden später sehen, dass die Länge des Kreisbogens zwischen und dem Punkt ist. Das bedeutet, dass der Winkel im Bogenmaß ist.
Die Grundidee des Winkels ist es, ein Paar aus zwei Halbgeraden durch einen Punkt gleichmäßig und beliebig fein unterteilen zu können. Diese Homogenitätseigenschaft wird durch das Argument erfüllt.
Seien .
Dann hängt der (euklidische) Abstand zwischen
nur von ab.
Insbesondere wird der Kreisbogen zwischen
durch , , in Punkte derart unterteilt, dass benachbarte[1] Punkte den gleichen Abstand besitzen.
Der euklidische Abstand zwischen den beiden Punkten ist
Unter Verwendung der Additionstheoreme kann man den Radikanden umformen zu
Für zwei komplexe Zahlen und ist
Zwei komplexe Zahlen werden also miteinander multipliziert, indem man ihre Beträge in multipliziert und ihre Argumente (Winkel) addiert.
- Wurzeln aus komplexen Zahlen
Diese letzte Aussage besagt, dass jedes Polynom der Form in mindestens eine Nullstelle besitzt. Insofern handelt es sich dabei um eine Vorstufe für den Fundamentalsatz der Algebra. Ein wichtiger Spezialfall liegt bei vor. Man spricht von komplexen Einheitswurzeln.
Die ist für jedes eine -te komplexe Einheitswurzel, und die ist für jedes gerade eine -te komplexe Einheitswurzel.
Es sei .
Die Nullstellen des Polynoms über sind
In gilt die Faktorisierung
Es ist
Die angegebenen komplexen Zahlen sind also wirklich Nullstellen des Polynoms . Diese Nullstellen sind alle untereinander verschieden, da aus
mit
sofort durch Betrachten des Quotienten folgt, und daraus . Es gibt also explizit angegebene Nullstellen und daher müssen dies alle Nullstellen des Polynoms sein. Die explizite Beschreibung in Koordinaten folgt aus der eulerschen Formel. Die Faktorzerlegung folgt aus Lemma 11.6.
Es gibt also insbesondere genau -te komplexe Einheitswurzeln. Die komplexen Einheitswurzeln bilden nach
Lemma 21.7
die Ecken eines regelmäßigen -Ecks, wobei die Eckpunkte auf dem Einheitskreis liegen und dazugehört.
- Fußnoten
- ↑ Gemeint ist in der Indizierung benachbart.
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