Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil III/Vorlesung 66/kontrolle
Wir haben jetzt alle Hilfsmittel zusammen, um auf den Borel-Mengen des ein Maß zu definieren, das für einen Quader, dessen Seiten reelle Intervalle sind, einfach das Produkt der Seitenlängen ist. Dieses Maß heißt Borel-Lebesgue-Maß. Wir beginnen mit der eindimensionalen Situation.
- Das Borel-Lebesgue-Maß auf .
Das Mengensystem aller Teilmengen , die sich als eine endliche (disjunkte) Vereinigung von halboffenen Intervallen schreiben lassen,
ist ein Mengen-Präring.
Eine Teilmenge lässt sich genau dann als eine endliche Vereinigung von halboffenen Intervallen schreiben, wenn dies mit endlich vielen disjunkten halboffenen Teilmengen möglich ist, siehe Aufgabe 66.18. Die leere Menge ist das halboffene Interall (bzw. die leere Vereinigung). Die Abgeschlossenheit unter Vereinigungen ist klar. Sei und . Dann ist
Da eine Vereinigung von maximal zwei halboffenen Intervallen ist, folgt die Behauptung durch Induktion über .
Es sei der Mengen-Präring aller Teilmengen , die sich als eine endliche Vereinigung von halboffenen Intervallen schreiben lassen. Dann gelten folgende Aussagen.
- Die zu
über eine Zerlegung in disjunkte halboffene Intervalle
definierte Zahl
ist wohldefiniert.
- Durch die Zuordnung wird ein Prämaß auf diesem Präring definiert.
Beweis
Es sei die - Algebra der Borel-Mengen auf .
Dann gibt es genau ein (- endliches) Maß auf , das für jedes halboffene Intervall den Wert besitzt.
Statt halboffene Intervalle kann man auch offene oder abgeschlossene Intervalle nehmen.
Dies folgt aus Lemma 66.2, aus Satz 63.7 und aus Satz 64.7. Durch die gegebene Normierung auf den Intervallen sind die in Frage stehenden Maße von vornherein -endlich. Der Zusatz gilt, da man halboffene Intervalle durch offene bzw. abgeschlossene Intervalle beliebig gut approximieren kann.
Das eindeutig bestimmte Maß auf , das für jedes halboffene Intervall den Wert besitzt, heißt (eindimensionales) Borel-Lebesgue-Maß.
Für jede Borel-Menge ist
- Das Borel-Lebesgue-Maß auf .
Der sei mit der - Algebra der Borel-Mengen versehen.
Dann gibt es auf genau ein (- endliches) Maß
das für alle Quader
den Wert
besitzt.
Die Aussage gilt auch für (achsenparallele) Quader mit offenen bzw. abgeschlossenen Intervallen als Seiten.
Das Borel-Lebesgue-Maß ordnet also jeder Borel-Menge eine reelle Zahl oder das Symbol zu. Die Quader bilden dabei die Grundkörper, denen auf eine besonders einfache Weise ein Maß zugeordnet wird, wodurch das gesamte Maß festgelegt wird. Für eine beliebige messbare Menge ist dabei gegeben als das Infimum von über alle abzählbaren Überpflasterungen von mit Quadern (so war eben das äußere Maß definiert, mit dessen Hilfe wir den Fortsetzungssatz für Maße aufstellen konnten). Es gibt kein allgemeines Verfahren, für gegebene Mengen (beispielsweise Flächenstücke, Körper) ihr Maß (ihren Flächeninhalt, ihr Volumen) effektiv zu bestimmen. Eine wichtige Technik ist die Integration von Funktionen in einer und in mehreren Variablen.
- Die Translationsinvarianz des Borel-Lebesgue-Maßes
Für eine beliebige Teilmenge in einem Vektorraum und einen Vektor nennt man
die um verschobene Menge.
Ein Maß auf einem reellen endlichdimensionalen Vektorraum heißt translationsinvariant, wenn für alle messbaren Teilmengen und alle Vektoren die Gleichheit
gilt.
Das Borel-Lebesgue-Maß auf
Zu betrachten wir die Translationsabbildung
Es sei das Bildmaß unter der Translationsabbildung. Dieses ist wieder ein - endliches Maß. Für jeden Quader ist bzw. wieder ein achsenparalleler Quader, wobei sich die Seitenlängen nicht ändern. Daher ist
Das Maß stimmt also auf den Quadern mit überein und daher ist nach Satz 66.5 überhaupt
Die Translationsinvarianz des Borel-Lebesgue-Maßes kann man auch so formulieren, dass jede Translation eine
maßtreue Abbildung
ist.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum und seien linear unabhängige Vektoren gegeben. Dann nennt man
das von den erzeugte Parallelotop.
Es sei ein translationsinvariantes Maß auf dem , das auf dem Einheitswürfel endlich sei. Es sei ein echter Untervektorraum.
Dann ist .
Es sei ein Untervektorraum der Dimension und nehmen wir an, dass ist. Es sei eine Basis von und
das davon erzeugte -dimensionale Parallelotop.[1] Dies lässt sich durch endlich viele verschobene Einheitswürfel überpflastern und besitzt demnach ein endliches Maß. Die verschobenen Parallelotope
besitzen wegen der Translationsinvarianz alle dasselbe Maß und bilden eine Überpflasterung von . Da es abzählbar viele sind, muss gelten. Es sei nun eine Ergänzung der Basis zu einer Basis von , und sei
das zugehörige -dimensionale Parallelotop. Für dieses ist
Wir betrachten nun die abzählbar unendlich vielen Parallelotope
Diese liegen alle innerhalb von und besitzen wegen der Translationsinvarianz alle das gleiche Maß wie . Ferner sind sie paarweise disjunkt, da andernfalls ein nichttriviales Vielfaches von zu gehören würde. Aus
folgt , ein Widerspruch.
Allgemein nennt man Unterräume
(und zwar nicht nur Untervektorräume, sondern auch affine Unterräume, also verschobene Untervektorräume)
des der Dimension Hyperebenen. Insbesondere besitzen Hyperebenen das Maß .
ist das einzige translationsinvariante Maß auf , das auf dem Einheitswürfel den Wert besitzt.
Das Borel-Lebesgue-Maß erfüllt nach Satz 66.9 diese Bedingungen. Es sei ein solches Maß. Nach Lemma 66.11 ist es egal, ob diese Bedingung an den abgeschlossenen, den offenen oder einen halboffenen Einheitswürfel gestellt wird. Wir werden durchgehend mit rechtsseitig offenen Quadern arbeiten. Da der durch abzählbar viele Verschiebungen des Einheitswürfels überdeckt wird, die wegen der Translationsinvarianz von alle das gleiche Maß besitzen, ist - endlich. Wir müssen zeigen, dass mit übereinstimmt, wobei es aufgrund des Eindeutigkeitssatzes genügt, die Gleichheit auf einem durchschnittsstabilen Erzeugendensystem für die Borelmengen nachzuweisen. Ein solches System bilden die Quader der Form mit rationalen Ecken. Wegen der Translationsinvarianz von besitzt ein solcher Quader das gleiche Maß wie der verschobene Quader . Wir schreiben einen solchen Quader unter Verwendung eines Hauptnenners als mit . Dieser Quader setzt sich disjunkt aus Quadern (nämlich mit ) zusammen, die alle das gleiche -Maß haben, da sie ineinander verschoben werden können. Das -Maß des Quaders ist also das -fache des -Maßes des Quaders . Da sich der Einheitswürfel aus verschobenen Kopien dieses kleineren Würfels zusammensetzt, muss und damit
sein.
Es sei ein translationsinvariantes Maß auf , das auf dem Einheitswürfel ein endliches Maß habe.
Dann gibt es eine eindeutig bestimmte Zahl mit .
Es sei , wobei der Einheitswürfel im sei. Wenn ist, so liegt das Nullmaß vor, da sich der mit abzählbar vielen verschobenen Einheitswürfeln überdecken lässt, die wegen der Translationsinvarianz ebenfalls das Maß haben. Dann hat der Gesamtraum das Maß und damit hat jede messbare Teilmenge das Maß . Es sei also . In diesem Fall betrachten wir das durch
definierte
(umskalierte)
Maß. Dieses ist nach wie vor translationsinvariant und besitzt auf dem Einheitswürfel den Wert . Nach
Satz 66.12
ist also
und somit ist
.
- ↑ Wenn man eine Orthonormalbasis wählt handelt es sich um einen Würfel.