Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2011-2012)/Teil II/Vorlesung 53/kontrolle
Wir haben schon für verschiedene Differentialgleichungen gezeigt, dass eine Lösung existiert und durch eine Anfangswertbedingung eindeutig bestimmt ist. Der Satz von Picard-Lindelöf beweist dies recht allgemein unter der Voraussetzung, dass das Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt.
- Lipschitz-Bedingung
Für den Satz von Picard-Lindelöf wird die Voraussetzung wesentlich sein, dass das Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein Vektorfeld auf . Man sagt, dass das Vektorfeld einer Lipschitz-Bedingung genügt, wenn es eine reelle Zahl mit
für alle und gibt.
Die reelle Zahl nennt man auch eine Lipschitz-Konstante für das Vektorfeld .
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein Vektorfeld auf . Man sagt, dass das Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt, wenn es zu jedem Punkt eine offene Umgebung
derart gibt, dass das auf eingeschränkte Vektorfeld einer Lipschitz-Bedingung genügt.
Die folgende Aussage liefert ein wichtiges und leicht überprüfbares hinreichendes Kriterium, wann ein Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt.
Es sei ein reelles offenes Intervall, eine offene Menge und
ein Vektorfeld auf derart, dass die partiellen Ableitungen nach existieren und stetig sind.
Dann genügt lokal einer Lipschitz-Bedingung.
Sei
ein Punkt in und seiist. Dieses ist eine abgeschlossene Umgebung von und daher kompakt. Da die partiellen Ableitungen nach Voraussetzung stetig sind, gibt es nach Fakt ***** eine gemeinsame Schranke mit
für alle . Daher gibt es für die Matrizen eine Schranke mit
Man kann daher zu jedem festen Zeitpunkt Fakt ***** anwenden und erhält für die Abschätzung
Für ein lineares Differentialgleichungssystem
mit einer stetigen Matrix sind die Bedingungen der vorstehenden Aussage erfüllt. Die -te Komponente des Vektorfelds besitzt ja die Gestalt
Daraus folgt, dass nach partiell ableitbar ist mit der stetigen Ableitung , so dass die Bedingungen erfüllt sind.
- Differential- und Integralgleichungen
Mit dem Begriff des Integrals einer Kurve, das wir in Vorlesung 36 eingeführt haben, kann man Differentialgleichungen auch als Integralgleichungen schreiben.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein stetiges Vektorfeld auf . Es sei vorgegeben.
Dann ist eine stetige Abbildung
auf einem Intervall mit genau dann eine Lösung des Anfangswertproblems (insbesondere muss differenzierbar sein)
wenn die Integralgleichung
erfüllt.
Es sei die Integralbedingung erfüllt. Dann ist
und aufgrund
des Hauptsatzes der Infinitesimalrechnung
gilt
.
Insbesondere sichert die Integralbedingung, dass
differenzierbar
ist.
Wenn umgekehrt eine Lösung des Anfangswertproblems ist, so ist
und daher
- Der Satz von Picard-Lindelöf
Wir kommen nun zum wichtigsten Existenz- und Eindeutigkeitssatz für die Lösungen von gewöhnlichen Differentialgleichungen.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein Vektorfeld auf . Es sei vorausgesetzt, dass dieses Vektorfeld stetig sei und lokal einer Lipschitz-Bedingung genüge.
Dann gibt es zu jedem ein offenes Intervall mit derart, dass auf diesem Intervall eine eindeutige Lösung für das Anfangswertproblem
existiert.
Nach Lemma 53.4 ist eine stetige Abbildung
genau dann eine Lösung des Anfangswertproblems, wenn die Integralgleichung
erfüllt. Wir wollen die Existenz und Eindeutigkeit einer Lösung für diese Integralgleichung unter Verwendung des Banachschen Fixpunktsatzes dadurch erweisen, dass wir für die Abbildung (man spricht von einem Funktional)
einen Fixpunkt finden. Hierbei stehen links und rechts Abbildungen in (aus einem gewissen Teilintervall von mit Werten in ). Die Fixpunkteigenschaft bedeutet gerade, dass ist. Um den Fixpunktsatz anwenden zu können müssen wir ein Definitionsintervall festlegen, und eine Metrik auf dem Abbildungsraum nach definieren, diesen metrischen Raum dann als vollständig und das Funktional als stark kontrahierend nachweisen. Aufgrund der Voraussetzung über die lokale Lipschitz-Bedingung gibt es eine offene Umgebung
und ein mit
für alle und . Durch Verkleinern der Radien können wir annehmen, dass der Abschluss von , also das Produkt des abgeschlossenen Intervalls mit der abgeschlossenen Kugel, ebenfalls in liegt. Aufgrund von Fakt ***** gibt es ein mit
(da diese Beschränktheit auf dem Abschluss gilt). Wir ersetzen nun durch ein kleineres Intervall
mit
,
und
.
Wir betrachten nun die Menge der
stetigen Abbildungen
Dabei wird also mit der
Maximumsnorm
auf versehen. Dieser Raum ist nach
Fakt *****
und nach
Aufgabe *****
{{:Kurs:Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2011-2012)/Vollständiger metrischer Raum/Teilmenge abgeschlossen gdw vollständig/Aufgabe/Aufgabereferenznummer/Vollständiger metrischer Raum/Teilmenge abgeschlossen gdw vollständig/Aufgabe/Aufgabereferenznummer}}
wieder ein vollständiger metrischer Raum.
Wir betrachten nun auf diesem konstruierten Intervall bzw. der zugehörigen Menge die Abbildung
Dazu müssen wir zunächst zeigen, dass wieder zu gehört. Für ist aber nach Satz 36.1
und ist stetig, da es durch ein Integral definiert wird.
Zum Nachweis der Kontraktionseigenschaft seien
gegeben. Für ein
ist
Da dies für jedes gilt, folgt aus dieser Abschätzung direkt
d.h. es liegt eine
starke Kontraktion
vor. Daher besitzt ein eindeutiges Fixelement
,
und diese Abbildung löst die Differentialgleichung. Dies gilt dann erst recht auf jedem offenen Teilintervall von .
Damit haben wir insbesondere bewiesen, dass es in nur eine Lösung geben kann, wir wollen aber generell auf dem Intervall Eindeutigkeit erhalten. Für eine Lösung
gilt aber wegen der Integralbeziehung wieder
und die gleichen Abschätzungen wie weiter oben zeigen, dass die Lösung zu gehören muss.
- Die Picard-Lindelöf-Iteration
Der Beweis des Satzes von Picard-Lindelöf, den wir nicht vorgeführt haben, läuft über die äquivalente Integralgleichung und ist prinzipiell kontruktiv. Darauf beruht die Picard-Lindelöf-Iteration, mit der man Lösungen approximieren kann. Die Güte der Approximationen wird dabei durch geeignete Normen auf Funktionenräumen gemessen, was wir nicht ausführen.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein Vektorfeld auf . Es sei eine Anfangsbedingung. Es sei vorausgesetzt, dass dieses Vektorfeld stetig sei und lokal einer Lipschitz-Bedingung genüge. In der Picard-Lindelöf-Iteration definiert man iterativ eine Folge von Funktionen
durch (dies ist also die konstante Funktion mit dem Wert ) und durch
Dann gibt es ein Teilintervall mit derart, dass für die Folge gegen einen Punkt konvergiert (man sagt, dass die Funktionenfolge punktweise konvergiert; es gelten hier auch stärkere Konvergenzaussagen). Diese Grenzfunktion ist dann eine Lösung des Anfangswertproblems
Bei einer linearen Differentialgleichung mit stetigen Koeffizientenfunktionen konvergiert dieses Verfahren auf ganz .
Wir wenden dieses Verfahren auf eine Differentialgleichung mit getrennten Variablen an, für die wir die Lösung schon kennen (siehe Aufgabe 30.7).
Wir wenden die Picard-Lindelöf-Iteration auf die Differentialgleichung
mit der Anfangsbedingung
an (die Lösung ist ). Daher ist . Die erste Iteration liefert
Die zweite Iteration liefert
Die dritte Iteration liefert
Dabei stimmt die -te Iteration mit der Taylor-Entwicklung der Ordnung der Lösung überein.
- Zur Eindeutigkeit der Lösungen von Differentialgleichungen
Der Satz von Picard-Lindelöf sagt, dass es unter den gegebenen Voraussetzungen lokal, also auf einem gewissen Teilintervall, eine eindeutige Lösung der Differentialgleichung gibt. Die folgende Aussage zeigt, dass eine Lösung dort, wo sie definiert ist, eindeutig bestimmt ist. Wir verwenden die folgende Zusammenhangseigenschaft eines reellen Intervalls , die aus dem Zwischenwertsatz folgt: Eine nichtleere Teilmenge , die sowohl offen als auch abgeschlossen ist, muss gleich ganz sein.
Es sei ein endlichdimensionaler reeller Vektorraum, ein reelles Intervall, eine offene Menge und
ein stetiges Vektorfeld auf das lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt. Es sei ein offenes Teilintervall und es seien
Lösungen des Anfangswertproblems
Dann ist .
Wir betrachten die Menge
Wegen
ist diese Menge nicht leer.
Zu jedem Punkt
gibt es nach
Satz 53.5
eine offene Intervallumgebung
,
worauf es zu gegebener Anfangsbedingung
genau eine Lösung der Differentialgleichung gibt. Wenn
ist, so ist
und daher stimmen
und
in einer offenen Umgebung
mit der eindeutigen Lösung und damit untereinander überein. Also ist
.
Dies bedeutet, dass eine
offene
Teilmenge von ist.
Andererseits sind
und
stetig
und daher ist nach
Aufgabe 33.6
die Menge auch
abgeschlossen
in .
Aus der Vorbemerkung folgt
.
Das folgende Beispiel zeigt, dass ohne die Lipschitz-Bedingung die Lösung eines Anfangswertproblems nicht eindeutig bestimmt ist. In diesem Beispiel ist das Vektorfeld nach ableitbar, die Ableitung ist aber nicht stetig, so dass
Lemma 53.3
nicht anwendbar ist.
Wir betrachten das Anfangswertproblem
zum zeitunabhängigen Vektorfeld
Offensichtlich gibt es die stationäre Lösung
aber auch
ist eine Lösung, wie man durch Nachrechnen sofort bestätigt. Aus diesen beiden Lösungen kann man sich noch weitere Lösungen basteln. Es seien dazu reelle Zahlen. Dann ist auch
eine Lösung. D.h. es gibt Lösungen, bei denen das Teilchen beliebig lange (im Zeitintervall von nach ) ruht und danach (und davor) sich bewegt. Sobald sich das Teilchen in einem Punkt befindet, ist der Bewegungsablauf lokal eindeutig bestimmt.
Zu einem stetigen Vektorfeld
kann man sich fragen, ob es ein maximales Definitionsintervall für die Lösung eines Anfangswertproblems
gibt. Dies ist in der Tat der Fall, wenn das Vektorfeld lokal einer Lipschitz-Bedingung genügt! Man kann nämlich alle Teilmengen
betrachten. Wegen Satz 53.8 stimmen zwei Lösungen und auf dem Durchschnitt überein, und liefern daher eine eindeutige Lösung auf der Vereinigung . Daher enthält die Menge der Teilintervalle, auf denen eine Lösung definiert ist, ein maximales Teilintervall .
Dieses Teilintervall kann kleiner als sein. Die Grenzen des maximalen Teilintervalls, auf dem eine Lösung definiert ist, heißen auch Entweichzeiten.
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