Kurs:Mathematik für Anwender (Osnabrück 2019-2020)/Teil I/Vorlesung 16



Ableitung von Potenzreihen

Viele wichtige Funktionen wie die Exponentialfunktion oder die trigonometrischen Funktionen werden durch eine Potenzreihe dargestellt. Der folgende Satz zeigt, dass diese Funktionen differenzierbar sind und ihre Ableitung durch diejenige Potenzreihe dargestellt wird, die sich durch gliedweises Ableiten ergibt.


Es sei

eine Potenzreihe, die auf dem offenen Intervall konvergiere und dort die Funktion darstellt.

Dann ist auch die formal abgeleitete Potenzreihe

auf konvergent. Die Funktion ist in jedem Punkt dieses Intervalls differenzierbar mit

Der Beweis erfordert ein genaues Studium von Potenzreihen.


Im Satz haben wir für die Potenzreihe und für die dadurch festgelegte Funktion geschrieben, um die Rollen deutlicher zu machen. Von nun an ist diese Unterscheidung nicht mehr nötig.



Eine durch eine Potenzreihe gegebene Funktion

ist auf ihrem Konvergenzintervall unendlich oft differenzierbar.

Dies ergibt sich direkt aus Satz 16.1.



Die Exponentialfunktion

ist differenzierbar mit

Aufgrund von Satz 16.1 ist



Die Exponentialfunktion

zur Basis

ist differenzierbar mit

Nach Definition 12.15 ist

Die Ableitung nach ist aufgrund von Satz 16.3 unter Verwendung der Kettenregel gleich


Bei einer reellen Exponentialfunktion

gilt nach Satz 16.4 die Beziehung

es besteht also ein proportionaler Zusammenhang zwischen der Funktion und ihrer Ableitung mit dem Proportionalitätsfaktor . Dies gilt auch dann, wenn mit einer Konstanten multipliziert wird. Wenn man unter eine von der Zeit abhängige Größe versteht, so beschreibt das momentane Wachstum zu einem Zeitpunkt. Die Gleichung bedeutet dann, dass das momentane Wachstum in jedem Zeitpunkt proportional zur momentanen Größe ist. Ein solches Wachstum (bzw. Schrumpfung bei bzw. ) kommt in der Natur bei einer Population dann vor, wenn es keine nennenswerte Nahrungskonkurrenz und vernachlässigbare Sterberaten gibt (die Anzahl der Mäuse ist dann proportional zur Anzahl der geborenen Mäuse). Eine Bedingung der Form

ist ein Beispiel für eine Differentialgleichung. Dies ist eine Gleichung für eine Funktion, die Bedingungen an die Ableitung der Funktion ausdrückt. Eine Lösung einer solchen Differentialgleichung ist eine differenzierbare Funktion, die diese Ableitungsbedingung erfüllt. Die Lösungen der zuletzt formulierten Differentialgleichung sind die Funktionen


Wir werden uns im zweiten Semester mit Differentialgleichungen intensiv beschäftigen.



Die Ableitung des natürlichen Logarithmus

ist

Da der Logarithmus die Umkehrfunktion der Exponentialfunktion ist, können wir Satz 14.9 anwenden und erhalten mit Satz 16.3



Es sei .

Dann ist die Funktion

differenzierbar und ihre Ableitung ist

Nach Definition 12.15 ist

Die Ableitung nach ist aufgrund von Satz 16.3 und Korollar 16.6 unter Verwendung der Kettenregel gleich



Die Sinusfunktion

ist differenzierbar mit

und die

Kosinusfunktion

ist differenzierbar mit

Beweis

Siehe Aufgabe 16.4.



Die Tangensfunktion

ist differenzierbar mit

und die Kotangensfunktion

ist differenzierbar mit

Aufgrund der Quotientenregel, Satz 16.8 und der Kreisgleichung ergibt sich

Das Argument für die Ableitung des Kotangens ist entsprechend.




Die Zahl

Die Zahl ist der Flächeninhalt bzw. der halbe Kreisumfang eines Kreises mit Radius . Um darauf eine präzise Definition dieser Zahl aufzubauen müsste man zuerst die Maßtheorie (bzw. die Länge von „krummen Kurven“) entwickeln. Auch die trigonometrischen Funktionen haben eine intuitive Interpretation am Einheitskreis, doch auch diese setzt das Konzept der Bogenlänge voraus. Ein alternativer Zugang ist es, die Zahl über analytische Eigenschaften der durch ihre Potenzreihen definierten Funktionen Sinus und Kosinus zu definieren und dann erst nach und nach die Beziehung zum Kreis herzustellen (siehe Beispiel 20.10 und Beispiel *****).



Die Kosinusfunktion

besitzt im reellen Intervall genau eine Nullstelle.

Wir betrachten die Kosinusreihe

Für ist . Für kann man geschickt klammern und erhält

Nach dem Zwischenwertsatz gibt es also mindestens eine Nullstelle im angegebenen Intervall.
Zum Beweis der Eindeutigkeit betrachten wir die Ableitung des Kosinus, diese ist nach Satz 16.8

Es genügt zu zeigen, dass der Sinus im Intervall positiv ist, denn dann ist das Negative davon stets negativ und der Kosinus ist dann nach Satz 15.7 im angegebenen Intervall streng fallend, sodass es nur eine Nullstelle gibt. Für gilt



Eine rationale Approximation der Zahl auf einem -Pie.



Es sei die eindeutig bestimmte reelle Nullstelle der Kosinusfunktion aus dem Intervall . Die Kreiszahl ist durch

definiert.



Die Sinusfunktion und die Kosinusfunktion erfüllen in folgende Periodizitätseigenschaften.

  1. Es ist und für alle .
  2. Es ist und für alle .
  3. Es ist und für alle .
  4. Es ist , , , und .
  5. Es ist , , , und .

Aufgrund der Kreisgleichung

ist , also ist wegen der Überlegung im Beweis zu Lemma 16.10. Daraus folgen mit den Additionstheoremen die in (3) angegebenen Beziehungen zwischen Sinus und Kosinus, beispielsweise ist

Es genügt daher, die Aussagen für den Kosinus zu beweisen. Alle Aussagen folgen dann aus der Definition von und aus (3).



Eine Funktion heißt periodisch mit Periode , wenn für alle die Gleichheit

gilt.

Die beiden trigonometrischen Funktionen sind also periodische Funktionen mit der Periodenlänge .



Die inversen trigonometrischen Funktionen



Die reelle Sinusfunktion

induziert eine bijektive, streng wachsende Funktion

und die reelle Kosinusfunktion induziert eine bijektive streng fallende Funktion

Beweis

Siehe Aufgabe 16.12.



Die reelle Tangensfunktion induziert eine bijektive, streng wachsende Funktion

und die reelle Kotangensfunktion induziert eine bijektive streng fallende Funktion

Beweis

Siehe Aufgabe 16.13.


Aufgrund der Bijektivität von Sinus, Kosinus, Tangens und Kotangens auf geeigneten Intervallen gibt es die folgenden Umkehrfunktionen.



Die Umkehrfunktion der reellen Sinusfunktion ist

und heißt Arkussinus.



Die Umkehrfunktion der reellen Kosinusfunktion ist

und heißt Arkuskosinus.

Der Arkustangens



Die Umkehrfunktion der reellen Tangensfunktion ist

und heißt Arkustangens.

Der Arkuskotangens



Die Umkehrfunktion der reellen Kotangensfunktion ist

und heißt Arkuskotangens.



Die inversen trigonometrischen Funktionen besitzen die folgenden Ableitungen.

Für den Arkustangens gilt beispielsweise nach Satz 14.9



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