Kurs:Analysis (Osnabrück 2014-2016)/Teil I/Vorlesung 23

In den folgenden Vorlesungen beschäftigen wir uns mit der Integrationstheorie, d.h. wir wollen den Flächeninhalt derjenigen Fläche, die durch einen Funktionsgraphen einer Funktion

und der -Achse begrenzt wird, systematisch studieren und berechnen. Zugleich ergibt sich ein direkter Zusammenhang zum Auffinden von Stammfunktionen, das sind Funktionen, deren Ableitung ist. Der Flächeninhalt ist kein unproblematischer Begriff, den wir erst im dritten Semester im Rahmen der Maßtheorie grundlegend behandeln werden. Dennoch handelt es sich um einen intuitiv leicht zugänglichen Begriff, von dem wir hier nur einige wenige naheliegende Grundtatsachen verwenden. Sie dienen hier auch nirgendwo der Argumentation, sondern lediglich der Motivation. Ausgangspunkt ist, dass der Flächeninhalt eines Rechtecks mit gegebenen Seitenlängen einfach das Produkt der beiden Seitenlängen ist, und dass der Flächeninhalt einer Fläche, die man mit Rechtecken „ausschöpfen“ kann, als der Limes der Summe der beteiligten Rechtecksinhalte erhalten werden kann. Beim Riemannschen Integral, das zumindest für stetige Funktionen eine befriedigende Theorie liefert, beschränkt man sich auf solche Rechtecke, die parallel zum Koordinatensystem liegen, deren Breite (Grundseite auf der -Achse) beliebig varieren darf und deren Höhe in Beziehung zu den Funktionswerten über der Grundseite steht. Dadurch werden die Funktionen durch sogenannte Treppenfunktionen approximiert.



Treppenfunktionen
Eine Treppenfunktion. Im statistischen Kontext spricht man von Histogrammen oder von Säulendiagrammen.



Es sei ein reelles Intervall mit den Grenzen . Dann heißt eine Funktion

eine Treppenfunktion, wenn es eine Unterteilung

von derart gibt, dass auf jedem offenen Teilintervall konstant ist.

Diese Definition stellt also keine Bedingung an den Wert der Funktion an den Unterteilungspunkten. Das Intervall nennt man -tes Teilintervall, und heißt Länge dieses Teilintervalls. Wenn die Länge der Teilintervalle konstant ist, so spricht man von einer äquidistanten Unterteilung.


Es sei ein reelles Intervall mit den Grenzen und sei

eine Treppenfunktion zur Unterteilung und den Werten , . Dann heißt

das Treppenintegral von auf .

Das Treppenintegral wird auch mit bezeichnet. Bei einer äquidistanten Unterteilung mit der Teilintervalllänge ist das Treppenintegral gleich . Das Treppenintegral ist nicht von der gewählten Unterteilung abhängig, bezüglich der eine Treppenfunktion vorliegt (man kann also die Unterteilung verfeinern).


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt eine Treppenfunktion

eine obere Treppenfunktion zu , wenn für alle ist. Eine Treppenfunktion

heißt eine untere Treppenfunktion zu , wenn für alle ist.

Eine obere (untere) Treppenfunktion zu gibt es genau dann, wenn nach oben (nach unten) beschränkt ist.


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Zu jeder oberen Treppenfunktion

von zur Unterteilung , , und den Werten , , heißt das Treppenintegral

ein oberes Treppenintegral (oder eine Obersumme) von auf .


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine Funktion. Zu jeder unteren Treppenfunktion

von zur Unterteilung , , und den Werten , , heißt

ein unteres Treppenintegral (oder eine Untersumme) von auf .

Verschiedene obere (untere) Treppenfunktionen liefern natürlich verschiedene obere (und untere) Treppenintegralge.


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine nach oben beschränkte Funktion. Dann heißt das Infimum von sämtlichen Treppenintegralen zu oberen Treppenfunktionen von das Oberintegral von .


Es sei ein beschränktes Intervall und sei

eine nach unten beschränkte Funktion. Dann heißt das Supremum von sämtlichen Treppenintegralen zu unteren Treppenfunktionen von das Unterintegral von .

Die Beschränkung nach unten stellt sicher, dass es überhaupt eine untere Treppenfunktion gibt und damit die Menge der unteren Treppenintegrale nicht leer ist. Unter dieser Bedingung allein muss nicht unbedingt die Menge der unteren Treppenintegrale ein Supremum besitzen. Für (beidseitig) beschränkte Funktionen existiert hingegen stets das Ober- und das Unterintegral. Bei einer gegebenen Unterteilung gibt es eine kleinste obere (größte untere) Treppenfunktion, die durch die Suprema (Infima) der Funktion auf den Teilintervallen festgelegt ist. Bei stetigen Funktionen auf abgeschlossenen Intervallen sind das Maxima bzw. Minima. Für das Integral muss man aber Treppenfunktionen zu sämtlichen Unterteilungen berücksichtigen.



Riemann-integrierbare Funktionen
Eine untere und eine obere Treppenfunktion. Der grüne Flächeninhalt ist eine Untersumme und der gelbe Flächeninhalt (teilweise verdeckt) ist eine Obersumme.

Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt Riemann-integrierbar, wenn Ober- und Unterintegral von existieren und übereinstimmen.

Historisch korrekter ist es, von Darboux-integrierbar zu sprechen.


Es sei ein kompaktes Intervall. Zu einer Riemann-integrierbaren Funktion

heißt das Oberintegral (das nach Definition mit dem Unterintegral übereinstimmt) das bestimmte Integral von über . Es wird mit

bezeichnet.

Das Berechnen von solchen Integralen nennt man integrieren. Man sollte sich keine allzu großen Gedanken über das Symbol machen. Darin wird ausgedrückt, bezüglich welcher Variablen die Funktion zu integrieren ist. Es kommt dabei aber nicht auf den Namen der Variablen an, d.h. es ist



Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Es gebe eine Folge von unteren Treppenfunktionen  mit und eine Folge von oberen Treppenfunktionen  mit . Es sei vorausgesetzt, dass die beiden zugehörigen Folgen der Treppenintegrale konvergieren und dass ihr Grenzwert übereinstimmt.

Dann ist Riemann-integrierbar, und das bestimmte Integral ist gleich diesem Grenzwert, also

Beweis

Siehe Aufgabe 23.11.



Wir betrachten die Funktion

die bekanntlich in diesem Intervall streng wachsend ist. Für ein Teilintervall ist daher das Minimum und das Maximum der Funktion über diesem Teilintervall. Es sei eine positive natürliche Zahl. Wir unterteilen das Intervall in die gleichlangen Teilintervalle

der Länge . Das Treppenintegral zu der zugehörigen unteren Treppenfunktionen ist

(siehe Aufgabe 1.6 für die Formel für die Summe der Quadrate). Da die beiden Folgen und gegen konvergieren, ist der Limes für von diesen Treppenintegralen gleich . Das Treppenintegral zu der zugehörigen oberen Treppenfunktion ist

Der Limes davon ist wieder . Da beide Limiten übereinstimmen, müssen nach Lemma 23.10 überhaupt das Ober- und das Unterintegral übereinstimmen, sodass die Funktion Riemann-integrierbar ist und das bestimmte Integral

ist.




Es sei ein kompaktes Intervall und sei

eine Funktion. Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. Die Funktion ist Riemann-integrierbar.
  2. Es gibt eine Unterteilung derart, dass die einzelnen Einschränkungen Riemann-integrierbar sind.
  3. Für jede Unterteilung sind die Einschränkungen Riemann-integrierbar.

In dieser Situation gilt

Beweis

Siehe Aufgabe 23.13.



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine Funktion. Dann heißt Riemann-integrierbar, wenn die Einschränkung von auf jedes kompakte Intervall Riemann-integrierbar ist.

Aufgrund des obigen Lemmas stimmen für ein kompaktes Intervall die beiden Definitionen überein. Die Integrierbarkeit einer Funktion bedeutet nicht, dass eine Bedeutung hat bzw. existieren muss.



Riemann-Integrierbarkeit stetiger Funktionen



Es sei ein reelles Intervall und sei

eine stetige Funktion.

Dann ist Riemann-integrierbar.

Wir können annehmen, dass das Intervall kompakt ist, sagen wir . Die stetige Funktion ist auf diesem kompakten Intervall beschränkt nach Korollar 13.11. Daher gibt es obere und untere Treppenfunktionen und daher existieren Oberintegral und Unterintegral. Wir müssen zeigen, dass sie übereinstimmen.  Dazu genügt es, zu einem gegebenen eine untere und eine obere Treppenfunktion für anzugeben derart, dass die Differenz ihrer Treppenintegrale ist. Nach Lemma 14.2 ist gleichmäßig stetig. Daher gibt es zu ein derart, dass für alle  mit die Abschätzung gilt. Es sei nun so, dass ist, und betrachten wir die Unterteilung des Intervalls mit den Punkten . Auf den Teilintervallen , , ist der Abstand zwischen dem Maximum

und dem Minimum

kleiner/gleich . Die zu diesen Werten gehörigen Treppenfunktionen, also

und

sind dann eine obere bzw. untere Treppenfunktion zu . Die Differenz zwischen den zugehörigen Ober- und Untersummen ist dann



Diese Aussage gilt auch für stückweise stetige Funktionen.



Es sei

eine gleichmäßig konvergente Folge von stetigen Funktionen mit der Grenzfunktion

Dann gilt die Beziehung

Da die Grenzfunktion nach Lemma 16.4 stetig ist, existiert das bestimmte Integral rechts nach Satz 23.14. Für jedes gibt es ein mit

für alle und alle . Daher gilt für diese die Abschätzung unter Verwendung von Lemma 23.16  (3) und Lemma 23.16  (6)


Wenn man Aussagen beweist, bei denen auf Unterteilungen eines Intervalls Bezug genommen wird, so ist es häufig sinnvoll, feinere Unterteilungen einzuführen. Insbesondere ersetzt man häufig zwei verschiedene Unterteilungen durch eine gemeinsame Verfeinerung.



Es sei ein kompaktes Intervall und es seien zwei Riemann-integrierbare Funktionen. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Ist für alle , so ist .
  2. Ist für alle , so ist .
  3. Die Summe ist Riemann-integrierbar und es ist .
  4. Für ist .
  5. Die Funktionen und sind Riemann-integrierbar.
  6. Die Funktion ist Riemann-integrierbar.
  7. Das Produkt ist Riemann-integrierbar.

Für (1) bis (4) siehe Aufgabe 23.14. (5). Wir betrachten die Aussage für das Maximum. Wir müssen zeigen, dass es zu jedem eine obere und eine untere Treppenfunktion derart gibt, dass die Differenz der beiden Treppenintegrale ist. Es sei also ein vorgegeben. Aufgrund der Riemann-Integrierbarkeit gibt es Treppenfunktionen

und

Wir können annehmen, dass diesen Treppenfunktionen die gleiche Unterteilung zugrunde liegt. Es sei , die Länge des -ten Teilintervalls und es sei

Dann gilt

Wir setzen

Dies ist offenbar eine untere bzw. obere Treppenfunktionen für . Wir betrachten ein Teilintervall der gegebenen Unterteilung. Wenn dort

gilt, so ist dort

Wenn dort

gilt, so ist dort ebenfalls

 Dies gilt auch in den beiden anderen Fällen.


Damit ist die Differenz der Treppenintegrale .
(6) folgt direkt aus (5). Für (7) siehe Aufgabe 23.21.



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