Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 11/kontrolle
- Differentialformen
Es seien und endlichdimensionale - Vektorräume, offen und eine differenzierbare Abbildung. Der Differentiationsprozess ordnet jedem Punkt eine - lineare Abbildung
zu. Insgesamt liegt also eine Abbildung
vor, das ein neuartiges Objekt darstellt. Dies ist ein grundlegender Unterschied zur eindimensionalen Situation, wo die Ableitung einer Funktion wieder eine Funktion ist.
Dieses neuartige Objekt erfassen wir mit einer neuen Definition.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume und eine offene Teilmenge. Eine Form (oder Differentialform ersten Grades) auf mit Werten in ist eine Abbildung
Man spricht auch von einer Pfaffschen Form. Ein totales Differential, aufgefasst als eine Abbildung, die den Punkten der Definitionsmenge das zugehörige totale Differential zwischen den umgebenden Vektorräumen zuordnet, ist also eine solche -Form. Der Homomorphismenraum ist dabei selbst ein Vektorraum über , seine Dimension ist das Produkt der beiden Vektorraumdimensionen. Deshalb lassen sich auf eine -Form Konzepte wie Stetigkeit, Differenzierbarkeit u.s.w anwenden. Besonders wichtig sind die -wertigen Differentialformen. Für und schreibt man auch für .
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei die Menge der - Formen auf mit Werten in . Dann gelten folgende Eigenschaften.
- ist mit den natürlichen Operationen versehen ein -Vektorraum.
- Zu einer Differentialform
und einer Funktion
ist auch , wobei durch
definiert ist.
- Jede
-
differenzierbare Abbildung
definiert über das totale Differential eine - Differentialform
Dies ergibt eine Abbildung
- Die Abbildung aus (3) ist - linear.
Beweis
Es sei eine fixierte Basis auf mit den zugehörigen Koordinatenfunktionen . Die -te Koordinatenfunktion
ordnet jedem Vektor den Skalar zu, der durch die eindeutige Darstellung gegeben ist. Diese Koordinatenfunktionen sind lineare Abbildungen. Ihr totales Differential stimmt nach Proposition 45.3 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) für jeden Punkt mit der Abbildung selbst überein. Als (-wertige) Differentialform ist also die Abbildung
die jedem Punkt die -te Koordinatenfunktion zuordnet. Mit Hilfe dieser Standarddifferentialformen kann man jede weitere Differentialform einfach ausdrücken.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge. Es seien die Koordinaten zu einer fixierten Basis auf mit den zugehörigen Differentialformen .
Dann lässt sich jede -wertige -Form auf eindeutig in der Form
mit -wertigen Funktionen
schreiben. Zu einer total-differenzierbaren Funktion ist die zugehörige -Form in dieser Darstellung gleich
Dies beruht darauf, dass jede lineare Abbildung
nach dem Festlegungssatz eine eindeutige Darstellung
mit besitzt. Die zweite Aussage ergibt sich, indem man beide Seiten auf einen Punkt und auf einen Vektor der den Koordinaten zugrunde liegenden Basis anwendet.
Im funktionentheoretischen Kontext ist vor allem die Situation wichtig, in der
eine
(komplex)
differenzierbare
Funktion auf einer offenen Teilmenge
ist. Das zugehörige totale Differential ist, als Differentialform aufgefasst, die Form . Diese ordnet einem jeden Punkt
die komplex-lineare Abbildung
zu, also die Multiplikation mit der Ableitung .
Zu einer offenen Menge und einer holomorphen Funktion nennt man die Differentialform eine holomorphe Differentialform auf .
Dabei ist einfach die Differentialform, die jeden Punkt auf die Identität abbildet.
Auf ist eine holomorphe Differentialform. Es handelt sich um ein Standardbeispiel, an dem sich schon viele Phänomene illustrieren lassen, siehe Beispiel 12.6 und Beispiel 12.13.
Es sei eine offene Teilmenge und
eine reell-partiell differenzierbare Abbildung, die wir in der Form mit reellwertigen Funktionen
schreiben. Die Abbildung
ist dann eine -Form mit Werten in . Wenn man mit die reellwertige Differentialform bezeichnet, die jeden Punkt auf die lineare Projektion , , abbildet, und mit die reellwertige Differentialform bezeichnet, die jeden Punkt auf die lineare Projektion , , abbildet, und diese Formen wiederum in auffasst, so kann man
schreiben. Dies bestätigt man, indem man beide Seiten auf die Standardvektoren und anwendet.
Wenn eine -Form gegeben ist, so kann man sich fragen, ob man sie als totales Differential zu einer differenzierbaren Abbildung realisieren kann. Im eindimensionalen Fall ist dies die Frage nach einer Stammfunktion, im allgemeinen Fall ist aber diese Frage deutlich schwieriger, und eine Reihe von neuartigen Problemen tritt auf.
- Es gibt vergleichsweise einfach zu formulierende notwendige Bedingungen (symmetrische Form, geschlossene Form), dass eine -Form ein totales Differential ist, also eine Stammform besitzt. Diese sind aber im Allgemeinen nicht hinreichend.
- Mit der Hilfe von stetigen Wegen kann man das Problem mit der Hilfe von reell-eindimensionalen Integralen angehen. Allerdings ist die Wahl des stetigen Weges von einem Punkt zu einem anderen wichtig, im Allgemeinen wird das Integrationsresultat vom gewählten Weg abhängen. Wenn aber zwischen den Wegen gewisse topologische Beziehungen bestehen (Homotopien), so ist das Ergebnis wiederum unabhängig vom Weg.
- Eine Stammform kann lokal existieren, ohne dass sie global auf ganz existiert. Das bedeutet, dass es für jeden Punkt eine offene Umgebung (typischerweie eine Ballumgebung) geben kann, auf der eine Stammform besitzt, dass man aber diese Stammformen auf den Überlappungen eventuell nicht sinnvoll zusammenkleben kann. Die Differenz zwischen lokalen und globalen Lösungen ist ein typisches Phänomen der höherdimensionalen Analysis.
- Die Beziehung zwischen lokalen und globalen Lösungen hängt von topologischen Eigenschaften von ab. Ein instruktives Beispielpaar ist bereits einerseits und andererseits.
- Das Problem, eine Stammfunktion zu finden, tritt schon bei stetigen Funktionen
mit
offen auf. Die Hauptsätze der Integrationstheorie wie
Satz 23.14 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))
oder
Korollar 24.5 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))
sind mit gutem Grund nur reell formuliert. Obwohl der Differentiationsprozess im Reellen und im Komplexen gleichermaßen durch die Konvergenz des Differentialquotienten gegeben ist, unterscheidet sich die Integrationstheorie in den beiden Fällen deutlich. Ein typisches Beispiel ist die
komplexe Invertierungsfunktion
Gibt es eine komplexe Stammfunktion? Im reellen Fall ist der natürliche Logarithmus eine Stammfunktion, lässt sich diese auf die komplexen Zahlen ausdehnen? Man beachte, dass die Exponentialfunktion im Komplexen nicht injektiv ist, es gibt also keine Umkehrfunktion. Die oben erwähnten Phänomene begegnen schon in dieser sehr speziellen Situation.
- Stammformen und Geschlossenheit
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine - Differentialform auf mit Werten in . Die Differentialform heißt exakt, wenn es eine total differenzierbare Abbildung mit gibt.
Die Abbildung nennt man auch eine Stammform zu .
Es sei eine in konvergente Potenzreihe.
Dann ist die holomorphe Differentialform auf exakt.
Dies ist eine Umformulierung von Satz 8.17.
Aufgrund von
Satz 14.2
ist die vorstehende Aussage für jede auf einer offenen Kreisscheibe definierte komplex-differenzierbare Funktion anwendbar.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige differenzierbare - Differentialform auf , die bezüglich einer Basis von mit Koordinatenfunktionen die Beschreibung
mit -wertigen differenzierbaren Funktionen
besitze. Dann versteht man unter der äußeren Ableitung von die -Form
Die äußere Ableitung macht also aus einer -Form eine -Form. Auch das totale Differential, aufgefasst als -Form, bezeichnet man als eine äußere Ableitung, sie macht aus einer -Form (einer Abbildung) eine -Form.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige differenzierbare - Differentialform auf . Die Differentialform heißt geschlossen, wenn ihre äußere Ableitung ist.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige exakte stetig differenzierbare - Differentialform auf .
Dann ist geschlossen.
Es sei total differenzierbar mit , was es aufgrund der Exaktheit gibt. Wegen der stetigen Differenzierbarkeit von ist zweifach stetig differenzierbar. Es ist
Aufgrund des Satzes von Schwarz sind die Komponentenfunktionen gleich .
Es sei offen, sei eine Abbildung mit reell total differenzierbare reellwertigen Koeffizientenfunktionen . Wir betrachten die -wertige Differentialform auf mit der Darstellung
Dann ist genau dann komplex differenzierbar, wenn eine geschlossene Differentialform ist.
Die äußere Ableitung von
ist
Die Geschlossenheit bedeutet, dass dieser Ausdruck gleich ist, und dies bedeutet, dass beide Komponentenfunktionen sind. Dies bedeutet gerade, dass die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt sind, was nach Satz 3.5 zur komplexen Differenzierbarkeit äquivalent ist.
- Rückzug von Differentialformen
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige - Differentialform auf . Es sei eine offene Menge in einem weiteren endlichdimensionalen -Vektorraum und
eine total differenzierbare Abbildung. Dann nennt man die Differentialform auf mit Werten in , die einem Punkt die lineare Abbildung zuordnet, die zurückgezogene Differentialform.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, auf sei eine Basis mit den Koordinatenfunktionen und auf sei eine Basis mit den Koordinatenfunktionen fixiert. Es seien und offene Teilmengen, es sei
eine total differenzierbare Abbildung und es sei eine -wertige - Differentialform auf mit der Darstellung
mit Funktionen .
Dann besitzt die zurückgezogene Form die Darstellung
Aufgrund der Additivität beider Seiten können wir für ein annehmen. Es ist die Gleichheit von zwei linearen Abbildungen zu zeigen, sodass wir die Wirkungsweise auf der Basis von , die den Koordinaten zugrunde liegt, betrachten. Für einen Punkt und ein ist aber
Für eine holomorphe Differentialform , die auf einer offenen Teilmenge
mit einer komplex-differenzierbaren Funktion
gegeben ist, und eine weitere komplex-differenzierbare Funktion
, ,
ist der Rückzug gleich
Insbesondere ist
Es ist dieses Transformationsverhalten, das den Hauptunterschied zwischen einer holomorphen Funktion und der Differentialform ausmacht.
Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine - Differentialform auf mit Werten in . Es seien und weitere offene Mengen in endlichdimensionalen -Vektorräumen bzw. . Es seien
und
total differenzierbare Abbildungen.
Dann gilt
Beweis