Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 23



Die Windungszahl

Die Windungszahl beschreibt, wie oft sich eine geschlossene Kurve um einen Punkt herumwindet. Wir geben eine analytische Definition über ein Wegintegral.


Es sei und sei

ein stetiger, geschlossener stückweise stetig differenzierbarer Weg. Dann nennt man

die Windungszahl von um .

Statt Windungszahl sagt man auch Umlaufzahl oder Index, sie misst einfach, wie oft sich der Weg um den gegebenen Punkt windet. Diese Definition ist etwas unbefriedigend, da sie ein, auch für stetige geschlossene Kurven, intuitiv naheliegendes Konzept über ein Integral entwickelt. Das folgende Lemma gibt eine topologische Charakterisierung, sodass man auch von der Windungszahl eines stetigen Weges sprechen kann.


Es sei und sei

ein stetiger, geschlossener stückweise stetig differenzierbarer Weg. Dann erfüllt die Windungszahl folgende Eigenschaften.

  1. Homotope Wege (innerhalb von ) haben die gleiche Windungszahl.
  2. Wenn

    ein Gruppenisomorphismus der Fundamentalgruppe mit ist, bei dem die Standardumrundung

    auf abgebildet wird, dann ist

    Insbesondere ist die Windungszahl ganzzahlig.

  3. Es sei eine Liftung von zur (verschobenen) Exponentialfunktion

    Dann ist

  1. folgt aus Satz 22.3.
  2. Die Windungszahl der angegebenen Umrundung ist gleich . Deshalb und wegen (1) muss der Windungszahlhomomorphismus mit der Abbildung aus (2) übereinstimmen.
  3. Sei . Der Weg

    besitzt die Liftung

    Daher ist der Ausdruck in (3) für diesen Weg gleich . Diese Aussage folgt, da der Ausdruck in (3) nach Satz 21.13 homotopieinvariant und einen Gruppenhomomorphismus definiert.



Zu einer meromorphen Funktion

auf einer offenen Menge mit und einem stetigen Weg

mit und , wobei auf weder Null- noch Polstellen habe, ist

das -fache der Windungszahl von um den Nullpunkt.

Wir können annehmen, dass auf einer offenen Umgebung von weder eine Nullstelle noch einen Pol besitzt. Nach Lemma 12.8 und Aufgabe 11.24 ist

der linke Ausdruck ist nach Definition das -fache der Windungszahl von .



Es sei und sei die Standardumrundung von .

Dann ist für jeden Punkt die Windungszahl gleich

Beweis

Siehe Aufgabe 23.2.




Es sei ein geschlossener stetiger Weg und es sei .

Dann ist die Windungszahl

stetig und somit lokal konstant.

Es ist kompakt nach Lemma 17.6 (Maß- und Integrationstheorie (Osnabrück 2022-2023)) und daher abgeschlossen nach Lemma 17.2 (Maß- und Integrationstheorie (Osnabrück 2022-2023)), somit ist offen. Es sei . Wir zeigen

für alle Punkte aus einer offenen Umgebung von . In ist nach Satz 21.15 homotop zu einem mehrfach durchlaufenen Standardweg um und nach Lemma 23.2  (1) zählt die Windungszahl die Anzahl der Umläufe (mit Orientierung). Es sei

eine Homotopie zwischen und . Da stetig und kompakt ist, ist auch

kompakt und damit (in und auch) in abgeschlossen. Es sei , diese offene Menge ist insbesondere disjunkt zu . Für kann man auch als eine Homotopie zwischen und innerhalb von auffassen. Damit ist unter Verwendung von Lemma 23.4


Es sei

ein geschlossener stetiger und bis auf Überkreuzungen injektiver Weg. Nach Lemma 23.5 ist die Windungszahl auf den zusammenhängenden Teilmengen von konstant. Diese Windungszahlen kann man folgendermaßen bestimmen. Außerhalb des Weggeschehens (was man als die unbeschränkte Zusammenhangskomponente von definieren kann) ist die Windungszahl gleich . Wenn man von außen nach innen hineinwandert, so muss man bei jeder Überquerung von (kein Überkreuzungspunkt) die Windungszahl um erhöhen, wenn bei der Überquerung (gesehen von der Überquerungsrichtung) der Weg von links nach rechts verläuft, und um vermindern, wenn der Weg von rechts nach links verläuft. Die Richtigkeit dieses Prinzips kann man sich folgendermaßen klar machen. Es seien und Punkte, die in benachbarten Zusammenhangskomponenten liegen und wobei der direkte lineare Weg von nach den Weg, der von links nach rechts verlaufe, einfach im Punkt überquert. Wir betrachten den abgeänderten Weg , der vor dem Durchstoßungspunkt im Punkt verlässt und einen „Halbbogen“ macht, der miteinschließt und hinter dem Durchstoßungspunkt wieder im Punkt auf einbiegt. Es liegen dann und in der gleichen Zusammenhangskomponente von und ihre Windungszahl stimmt überein. Wir schreiben als Aneinanderlegung

wobei den Weg von nach beschreibt. Es ist dann der Weg ein einfacher Umlauf von mit Windungszahl . Daher ist




Der Residuensatz

Der folgende Satz heißt Residuensatz, mit ihm kann man Wegintegrale in einem einfach zusammenhängenden Gebiet zu einer Differentialform, die außerhalb von endlich vielen Punkten holomorph ist, allein durch die (rein topologisch gegebene) Windungszahlen in den Ausnahmepunkten und den dortigen Residuen bestimmen.



Es sei ein einfach zusammenhängendes Gebiet, eine endliche Teilmenge,

ein geschlossener stetiger Weg und sei

eine holomorphe Funktion.

Dann ist

wobei über alle Punkte summiert wird.

Es seien die Punkte von . In jedem Punkt betrachten wir die Laurent-Entwicklung von und schreiben

mit dem Hauptteil und dem Nebenteil . Die Hauptteile selbst schreiben wir wiederum als

wobei das Residuum von in ist und die anderen Summanden zusammenfasst. Aufgrund von Lemma 16.14  (1) sind die Hauptteile auf ganz (und auch auf ) konvergent. Es ist holomorph auf , daher ist

nach Korollar 22.5. Ferner ist

nach Korollar 12.12, da die nach Lemma 16.14  (2) eine Stammfunktion auf besitzen. Somit ist


Der Satz gilt auch, wenn eine diskrete Teilmenge ist, da dann innerhalb des Weges auch nur endlich viele Ausnahmepunkte liegen und die Windungszahlen in den Punkten außerhalb gleich sind.



Es sei ein einfach zusammenhängendes Gebiet, es seien Punkte und .

Dann ist der Komplex

von komplexen Vektorräumen exakt. Insbesondere ist der Restklassenraum der holomorphen Differentialformen modulo der exakten Differentialformen isomorph zu .

Die Abbildungen sind nach Lemma 11.2  (4) und Lemma 19.3  (4) - linear. Da selbst ein Gebiet ist, stimmen die konstanten Funktionen mit den Funktionen überein, deren Ableitung gleich ist. Deshalb ist der Komplex in exakt. Die Surjektivität hinten ist klar, da die auf holomorphe Differentialform auf das Residuentupel abbildet.

Es sei eine holomorphe Funktion auf gegeben, und es sei die Laurent-Reihe von in . Die zugehörige Differentialform

besitzt dann in eine Laurent-Reihe mit verschwindendem Residuum. Es sei nun umgekehrt eine holomorphe Differentialform auf , deren Residuen in den Punkten gleich seien. Nach dem Residuensatz ist das Wegintegral zu in für jeden geschlossenen Weg gleich . Nach Satz 12.16 ist daher die holomorphe Differentialform exakt.



Es sei ein einfach zusammenhängendes Gebiet, es seien Punkte und .

Dann liegt ein kommtatives Diagramm

von kommutativen Gruppen mit exakten Zeilen vor. Bei der letzten horizontalen Abbildung oben wird eine holomorphe Einheit auf das Windungszahltupel abgebildet, wobei eine Standardumrundung von innerhalb von bezeichnet.

Die Abbildungen sind wohldefiniert, da nach Lemma 23.2  (2) die Windungszahltupel stets ganzzahlig sind. Die Kommutativität des dritten Quadrats ergibt sich aus Aufgabe 19.11, die Kommutativität des vierten Quadrats folgt aus Lemma 23.3 in Verbindung mit Lemma 19.2, angewendet auf jeden einzelnen Punkt . Die Exaktheit der zweiten Zeile ist Satz 23.8. Die Exaktheit der ersten Zeile in ist eine Umformulierung von Satz 21.5 (Analysis (Osnabrück 2021-2023))  (2). Zum Nachweis der Exaktheit in sei zunächst mit holomorph auf . Nach Aufgabe 19.11 ist die logarithmische Ableitung von gleich und deren Residuen sind gleich , was sich auf die Windungszahlen überträgt. Es sei nun derart, dass die Windungszahlen, also die Residuen der logarithmischen Ableitung , gleich sind. Es ist zu zeigen, dass es eine holomorphe Funktion auf gibt mit . Wegen der Residueneigenschaft und der Exaktheit der zweiten Zeile gibt es eine holomorphe Funktion mit

Es haben dann und die gleiche logarithmische Ableitung. Durch Addition einer Konstanten zu können wir ferner davon ausgehen, dass und in einem bestimmten Punkt den gleichen Wert besitzen. Dann ist eine Funktion, deren logarithmische Ableitung gleich ist. Dann ist nach Aufgabe 19.12 auch die Ableitung von gleich und wegen der Übereinstimmung in einem Punkt folgt

also . Die logarithmische Ableitung von ist und die zugehörigen Residuen sind , deshalb ist die letzte Abbildung oben auch surjektiv.



Es sei ein einfach zusammenhängendes Gebiet und es sei eine nullstellenfreie holomorphe Funktion.

Dann gibt es eine holomorphe Funktion mit .

Dies ist ein Spezialfall von Satz 23.9.


Die folgende Aussage ist eine wesentliche Verschärfung und Präzisierung der lokalen Aussage Satz 5.10.



Es sei ein einfach zusammenhängendes Gebiet und es sei eine nullstellenfreie holomorphe Funktion. Es sei .

Dann gibt es eine holomorphe Funktion mit .

Nach Korollar 23.10 gibt es eine holomorphe Funktion mit

Daher besitzt

nach Satz 7.8 die geforderte Eigenschaft.



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