Kurs:Funktionentheorie (Osnabrück 2023-2024)/Vorlesung 12



Wegintegrale

Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, eine offene Menge und eine messbare -wertige Differentialform. Es sei

eine stetig differenzierbare Kurve. Dann heißt

das Wegintegral von längs .

Dabei ist der Rückzug der Differentialform auf das reelle Intervall , der die Gestalt mit einer messbaren Abbildung

besitzt. Integriert wird dann die Abbildung über die Komponenten. Wichtig sind insbesondere stetige Differentialformen. Wenn der Weg nur stetig und stückweise stetig differenzierbar ist, so definiert man das Wegintegral als Summe der Wegintegrale zu den stetig differenzierbaren Teilwegen. Für sind hauptsächlich die Fälle oder relevant. Die Differentialformen werden zumeist stetig und nicht nur messbar sein.

Im physikalischen Kontext beschreibt eine reellwertige - Differentialform (bzw. ihre duale Version, ein Vektorfeld) eine Kraft; das Wegintegral ist dann der Arbeitsaufwand oder die Energie, die gebraucht oder freigesetzt wird, wenn sich ein Teilchen auf dem Weg bewegt.


Ein Wegintegral wird folgendermaßen berechnet. Es sei eine reellwertige -Form auf offen in einem endlichdimensionalen - Vektorraum, auf dem eine Basis mit den zugehörigen Koordinatenfunktionen fixiert sei. Die Differentialform ist dann nach Lemma 11.3 als

gegeben, wobei die messbare Funktionen sind. Es sei eine stetig differenzierbare Kurve gegeben mit den (stetig differenzierbaren) Komponentenfunktionen . Die Ableitung in einem Punkt wird dann nach Lemma 37.4 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) durch den Vektor beschrieben. Die zurückgezogene Differentialform hat dann im Punkt in Richtung den Wert

Im mittleren Ausdruck wird eine Linearform auf einen Vektor angewendet. In wird also durch und durch ersetzt. Das Gesamtergebnis ist eine messbare -Form auf bzw. eine messbare Funktion von nach , die man integrieren kann.


In der Situation von Bemerkung 12.3 sei und sei eine komplexe Basis mit den zugehörigen komplexwertigen Koordinatenfunktionen und den zugehörigen reellwertigen Koordinatenfunktionen und mit . Die Differentialform kann man in der Form

schreiben. Mit

ist für den Integranden

Es macht also keinen Unterschied, ob man mit der komplexen Differentialform das Wegintegral im Sinne von Bemerkung 12.3 oder mit der reell formulierten Differentialform berechnet.



Wir betrachten die holomorphe Differentialform und den Weg

Es ist und somit ist



Ein wichtiges Standardbeispiel ist die holomorphe Differentialform auf . Längs des Einheitskreises mit der trigonometrischen Parametrisierung

ist


Den trigonometrisch parametrisierten (einfachen) Kreisweg (egal, ob mit oder mit als Definitionsintervall) nennen wir auch die Standardumrundung um den Punkt mit Radius .



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und seien stetige Differentialformen auf mit Werten in . Es sei

eine (stückweise) stetig differenzierbare Kurve. Dann gelten folgende Aussagen.

  1. Für ist
  2. Es ist

    wobei den umgekehrt durchlaufenen Weg bezeichnet.

  3. Wenn

    ein weiterer (stückweise) stetig differenzierbarer Weg mit ist, so ist

    wobei den aneinander gelegten Weg bezeichnet.

Beweis

Siehe Aufgabe 12.7.



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige - Differentialform auf . Es sei eine offene Menge in einem weiteren endlichdimensionalen -Vektorraum und

eine stetig differenzierbare Abbildung. Es sei

ein stückweise stetig differenzierbarer Weg.

Dann ist

Wir können davon ausgehen, dass stetig differenzierbar ist. Dann ergibt sich die Aussage unter Verwendung von Lemma 11.16 direkt aus



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, eine offene Menge und eine messbare -wertige Differentialform. Es sei

eine stetig differenzierbare Kurve. Es sei

eine bijektive, monoton wachsende, stetig differenzierbare Funktion und sei .

Dann gilt

Wegen Lemma 11.16 können wir direkt davon ausgehen, dass eine Differentialform auf ist, also . Durch Betrachten der Komponentenfunktionen (siehe Aufgabe 12.8) können wir weiter davon ausgehen, dass ist. Die Aussage folgt somit aus der Substitutionsregel.



Es seien endlichdimensionale normierte - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige stetige - Differentialform auf . Es sei ein stetig differenzierbarer Weg und sei eine obere Schranke für auf .

Dann gilt die Abschätzung

Beweis

Siehe Aufgabe 12.11.



Wegintegrale und exakte Differentialformen



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine -wertige stetige - Differentialform auf . Es sei

ein stückweise stetig differenzierbarer Weg. Es sei exakt mit der Stammform .

Dann ist

Unter Verwendung von Aufgabe 11.23, Lemma 11.3 und Korollar 24.7 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) ist



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine offene Teilmenge und sei eine exakte -wertige stetige - Differentialform auf . Es sei

ein stückweise stetig differenzierbarer geschlossener Weg.

Dann ist

Dies folgt unmittelbar aus Satz 12.11.



Aus Beispiel 12.6 und Korollar 12.12 folgt, dass die holomorphe Differentialform nicht exakt ist, sie ist allerdings aufgrund von Lemma 11.13 geschlossen.




Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine zusammenhängende offene Teilmenge und sei eine -wertige stetige - Differentialform auf . Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. Es ist exakt.
  2. Für jeden stetig differenzierbaren Weg hängt das Wegintegral nur vom Anfangspunkt und Endpunkt ab.

Die Implikation folgt aus Satz 12.11.
Es sei umgekehrt die Eigenschaft erfüllt. Wir können nach Aufgabe 12.8 annehmen, dass ist. Wir geben eine auf definierte Funktion an, die total differenzierbar ist und deren totales Differential gleich der vorgegebenen Form ist. Dazu sei ein Punkt fixiert. Für jeden Punkt gibt es einen stetig differenzierbaren Weg

mit und . Wir setzen

Aufgrund der vorausgesetzten Wegunabhängigkeit des Integrals ist wohldefiniert. Wir zeigen zuerst, dass diese so definierte Funktion in jedem Punkt und in jede Richtung differenzierbar ist und die Richtungsableitung mit übereinstimmt. Dazu betrachten wir

wobei der verbindende lineare Weg von nach auf sei (und hinreichend klein sei, sodass ist). Für den Differentialquotienten ist

nach Satz 24.3 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)). Somit existiert die Richtungsableitung von in Richtung und hängt, wegen der Stetigkeit der Differentialform, stetig von ab. Daher ist stetig differenzierbar und somit nach Satz 46.3 (Analysis (Osnabrück 2021-2023)) auch total differenzierbar. Die letzte Gleichung bedeutet dann

sodass exakt mit der Stammform ist.



Eine Teilmenge in einem reellen Vektorraum heißt sternförmig bezüglich eines Punktes , wenn für jeden Punkt die Verbindungsstrecke , , ganz in liegt.



Es seien endlichdimensionale - Vektorräume, sei eine sternförmige offene Teilmenge und sei eine -wertige stetig differenzierbare - Differentialform auf . Dann sind folgende Aussagen äquivalent.

  1. Es ist exakt.
  2. Es ist geschlossen.
  3. Für jeden stetig differenzierbaren Weg hängt das Wegintegral nur vom Anfangspunkt und Endpunkt ab.

Die Äquivalenz folgt aus Satz 12.14 und die Implikation aus Lemma 11.12. Es bleibt also zu zeigen, wobei wir explizit eine Stammform zur Differentialform angeben. Es sei ein Punkt derart, dass bezüglich sternförmig ist. Wir definieren über das Wegintegral zu zum linearen Verbindungsweg

also

Es sei eine Basis von mit den Koordinaten und ohne Einschränkung sei . Wir schreiben

mit stetig differenzierbaren Funktionen . Wir müssen zeigen, dass die partiellen Ableitungen zu in gleich sind. Dafür können wir annehmen und wir schreiben statt . Mit diesen Bezeichnungen und Voraussetzungen ist

Dabei beruht die zweite Gleichung auf der Vertauschbarkeit von Integration und Differentiation (angewendet auf die stetig differenzierbare Funktion , ), die fünfte Gleichung auf der Geschlossenheit, die sechste Gleichung auf der Kettenregel und der Produktregel und die siebte Gleichung auf der Newton-Leibniz-Formel.

Die folgende Aussage ist eine wesentliche Verallgemeinerung von Korollar 11.9, weitere Verallgemeinerungen werden folgen, siehe Korollar 22.6.



Es sei eine sternförmige offene Teilmenge und sei

eine stetig komplex differenzierbare Funktion.

Dann besitzt eine Stammfunktion, und die holomorphe Differentialform ist exakt.

Nach Voraussetzung ist stetig komplex differenzierbar, nach Lemma 11.13 ist also geschlossen und nach wie vor stetig differenzierbar. Nach Satz 12.16 ist sie daher exakt.



Es sei eine sternförmige offene Teilmenge und sei

eine stetig komplex differenzierbare Funktion.

Dann hängt für jeden stetig differenzierbaren Weg das Wegintegral nur von und ab.

Dies folgt aus Korollar 12.17 und aus Satz 12.11.


In Satz 14.4 werden wir sehen, dass diese beiden Aussagen allein unter der Voraussetzung komplex differenzierbar gelten.


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